Erfahrungsbericht Sabine: Heilung von langjähriger Psychopharmakaeinnahme

Berichte von Betroffenen, die bereits Antidepressiva, Benzodiazepine, Neuroleptika (Antipsychotika) oder Phasenprophylaktika abgesetzt haben
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Erfahrungsbericht Sabine: Heilung von langjähriger Psychopharmakaeinnahme

Sabine hat über Jahrzehnte eine Vielzahl von Psychopharmaka (Antidepressiva, Benzodiazepine, Neuroleptika) eingenommen. Dieser Erfahrungsbericht wurde uns von ihr mit freundlicher Genehmigung zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt:
In ihrem Bericht beschreibt sie ihr Leben unter Psychopharmaka, die Hinwendung zu ihren persönlichen Ressourcen nach dem Entzug und ihren Heilungsweg.

Hinweis: Der Bericht enthält einige Passagen, die manche Betroffene triggern könnten.



"Bereits in sehr jungen Jahren hatte ich mehrere traumatische Erlebnisse – darunter auch den Tod des Vaters. Mit knapp 17 Jahren beging ich daraufhin einen Suizidversuch. Es folgte ein stationärer Aufenthalt von einigen Wo- chen. In dieser Zeit bekam ich keine Psychopharmaka sondern viele Gespräche. Durch Auszug aus dem Elternhaus und ein neues Umfeld stabilisierte ich mich jedoch. Ängste und Panikattacken kamen in Abständen immer wieder auf.

Mit Ende zwanzig gründete ich eine Familie. Mir ging es zu dieser Zeit immer wieder schlechter. Anfang dreißig plagten mich zunehmend Depressionen und diffuse Ängste vor dem Leben. Da ich immer öfter sogar vor Panik ohnmächtig wurde begab ich mich erst in ambulante psychiatrische Behandlung. Als keine Besserung eintrat ging ich auch in eine Klinik. Während dieser Zeit bekam ich MAO-Hemmer und Beruhigungsmittel oder Neuroleptika (Diazepam, Atosil) zum Schlafen. Leider wurde ich nicht richtig darüber aufgeklärt, dass bei dieser Medikation eine strenge Diät wichtig ist. Ich trank weiterhin Kaffee und aß viel Käse. In der Folge behielt ich kaum eine Mahlzeit bei mir. Ebenfalls hatte ich einen gesteigerten Bewegungsdrang. Innerhalb kürzester Zeit verlor ich erheblich an Gewicht. Dies gefiel mir, da ich mich als zu dick empfand. Durch die andauernde Übelkeit fiel es mir leicht auf Essen zu verzichten und ich magerte zu meiner Freude ab. Dies gipfelte in Zwangsernährung mit strenger Diät unter Aufsicht. Nach dem Absetzen der MAO-Hemmer konnte ich langsam wieder essen und kehrte zu einem normalen Körpergewicht zurück.

In den nächsten Jahren bekam ich unterschiedliche Psychopharmaka. Die meisten Medikamente zählten zu der Gruppe der Antidepressiva (Insidon, Sertralin, Citalopram) und parallel dazu längere Zeit Benzodiazepine (Bromazepam, Diazepam). Da diese Medikamente nicht die gewünschten Wirkungen zeigten wurde regelmäßig die Dosis erhöht bzw. auch mal die Arznei umgestellt. Je länger ich diese konsumierte desto eingeschränkter war ich kognitiv. Die Suizidalität verstärkte sich ebenfalls. Die Hoffnung – auch aus meinem Angehörigenkreis – eine rein medizinisch-biologische Lösung für meine Probleme zu finden, war in den ersten 10 Jahren noch vorhanden. Nach dem zweiten und dritten Suizidversuch gab es den Wunsch nach mehr oder stärkeren Medikamenten (zeitweise 60 mg Citalopram). All das war wie sich zeigte auch keine Lösung. Weitere Suizidversuche folgten.

Mit 50 erlitt ich einen Herzstillstand und hatte Glück, dass sofort Hilfe vor Ort war. Im Krankenhaus schob man diesen auf meinen teils ungesunden Lebenswandel mit viel Kaffee und Nikotin. Ich hatte Herzrhythmusstörungen und bekam einen Loop-Recorder implantiert um diese im Auge zu behalten.

Ich begann recht zügig das Medikament auszuschleichen. Ich litt unter starken Entzugssymptomen. Nach 3 Monaten ohne Citalopram waren meine Herzbeschwerden weg und das Auslesen des Loop-Recorders ohne Befund. Kaffee und Nikotin habe ich jedoch weiter zu mir genommen. Ich bin überzeugt, dass der Herzstillstand eine Spätfolge der Psychopharmakaeinnahmen war. Mein gesamter Stoffwechsel funktioniert nicht mehr gut. Dies bleibt als Spätfolge.

Im Lebensabschnitt ab ca. 50 Jahren begann ich meine persönlichen Ressourcen wieder zu nutzen. Nun war ich in der Lage meine tief verschütteten Traumata zu bearbeiten. Ich hatte viele therapeutische Gespräch. Mein neuer Psychiater unterstützte mich gut. Eine sehr herausfordernde und emotional an die Grenzen bringende Zeit. Ich probierte viele vergessene aber auch neue Dinge aus. Die aufkommenden Gefühle und Bilder verarbeitete ich kreativ. Dazu war mir fast jedes Material recht. Ich malte nächtelang, da ich durch den Entzug wenig schlafen konnte, begann mit Keramikaufbau und bearbeitete Speckstein. Zusätzlich machte ich Entspannungsmeditation und schrieb Geschichten auf. Ohne diese Beschäftigungsfelder hätte ich die anstrengende Zeit der Reflexion nicht durchgestanden. Die angelernte Opferrolle zu verlassen war harte Arbeit.

In den folgenden Jahren begann ich mich für Projekte zu engagieren. Ich wurde Scout im Tierpark Berlin, leitete eine Kreativgruppe und in Vertretung ebenfalls die Töpfergruppe in einer KBS. Ich schloss die Ausbildung zur Sterbebegleiterin ab und arbeitete ein Jahr ehrenamtlich im ambulanten Hospizdienst. Parallel absolvierte ich die EX-IN-Ausbildung. In der Freizeit begann ich Theater zu spielen und nahm mit einer Gruppe Hörspiele für einen lokalen Radiosender auf. Ich las viel. Dabei begegnete mir der Text „Hör zu“, der mir aus der Seele sprach.

Als Genesungsbegleiterin bin ich bemüht Menschen deren Bezugsassistenz ich übernehme beim Recovery- Prozess zu unterstützen. Ein Teil meiner Tätigkeit ist dabei die Suche nach Ressourcen zu begleiten. Viele Menschen, die wie ich jahrelang hochdosiert Psychopharmaka konsumiert haben tun sich schwer Kontakt zum eigenen Ich herzustellen. Jeder Assistenznehmer hat Fähigkeiten, die evtl. nur verschüttet sind. Für den Reduktions- bzw. Absetzverlauf braucht es ein Gegengewicht durch Alternativen. Gemeinsam mit begleitenden Helfern gelingt dies oft besser.

Mittlerweile bin ich 29,5 Stunden in der Woche als Genesungsbegleiterin im betreuten Wohnen bei VIA Perspektiven gGmbH berufstätig. Des weiteren bekleide ich einige Ehrenämter: Kellerkinder e.V. in den Vorstand kooptiert, exPEERienced e.V. Vorstandsmitglied, 2.Vorsitzende der BG 3 der Berliner Besuchskommission, Fachausschuss Psychopharmaka, Koordination der Veranstaltungsreihe „Psychopharmaka? Kritischer Trialog“ in Berlin, Runder Tisch 1906.

Diese Aktivitäten sind für mein Lebensgefühl wichtig. Ich habe einen Sinn darin gefunden und hoffe noch mehr für andere Menschen in der psychiatrischen Landschaft bewegen zu können. Wichtig ist es dabei jedoch auch achtsam mit meinen Ressourcen umzugehen."

Quelle: antipsychiatrieverlag.de/info/psychexit/4/haller-ressourcen.pdf
(Unter dieser Quelle findet sich auch der erwähnte Text „Hör zu“)
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