Erfahrungsbericht Jamie: Sertralin / SSRI-induzierte Akathisie

Berichte von Betroffenen, die bereits Antidepressiva, Benzodiazepine, Neuroleptika (Antipsychotika) oder Phasenprophylaktika abgesetzt haben
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Erfahrungsbericht Jamie: Sertralin / SSRI-induzierte Akathisie

Diesen Erfahrungsbericht hat Jamie ursprünglich für das Forum ADFD.org verfasst
Mit ihrer freundlichen Erlaubnis, stellen wir ihn euch auch hier zur Verfügung:



Hallo,

Auch ich möchte einen Erfahrungsbericht beisteuern.

Es war das Jahr 2005 / 2006 und ich inmitten meiner Magister-Prüfungs-Vorbereitungen an der Uni, als sich mein psychischer Zustand und meine Schlafstörungen weiter verschlechterten, sodass ich in heller Verzweiflung meine Neurologin aufsuchte.
Ich merkte, es ging alles den Bach herunter und ich raste sehenden Auges auf den Abgrund zu, konnte es aber nicht stoppen.

Es folgte ein Feuerwerk an Psychopharmaka; jede Woche saß ich erneut als Notfall, verheult, verquollen und kaum noch eines geraden Gedankens mächtig in der Praxis und musste berichten, dass das nächste Medikament wieder nicht geholfen hatte, sondern stattdessen unaushaltbare Nebenwirkungen (zumeist explosionsartige Unruhe und Panik) eingetreten waren, was für jemanden, der nachts kaum noch 2 Stunden Schlaf findet und dessen Körper 24/7 unter Strom steht, einfach ein GAU mit Ansage ist.

Da zu dieser Zeit auch nicht bekannt war, dass ich paradox auf NL reagiere, mussten erst unzählige Halbkatastrophen eintreten, ehe die Ärztin auf den Tisch haute und sagte "Entweder Sie nehmen jetzt mal ein halbes Jahr Sertralin, oder ich kann Sie nicht mehr weiterbehandeln. Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie nicht bereit sind auch mal ein Medikament länger zu nehmen und NW in Kauf zu nehmen."
Das war dann der Anfang vom Ende.

Aufgelöst vor Angst (ich schrieb meine Magisterarbeit zu diesem Zeitpunkt!) und voller Verzweiflung willigte ich in diese Erpressung ein.
Ich nahm ein paar Tage 25mg, ein paar Tage 50mg und dann ging ich hoch auf 100mg. Fast ein Jahr lang nahm ich diese Dosis.

Ich entwickelte eine Essstörung, mir war unter Zoloft (Sertralin) nicht nach essen und ich zitterte tagein / tagaus.
Ich zitterte mir sozusagen die Kilos vom Leib; nicht zu reden von der auch starken motorischen Unruhe.
Nachts bekam ich kein Auge zu, tagsüber torkelte ich völlig übermüdet und gleichzeitig aufgedreht wie unter Drogen (bitteres Lachen, ja, ich stand unter Drogen!) durch die Gegend.
Ich konnte keine Minute stillsitzen oder still liegen. Ich hatte den Kern meines Seins und Friedens verloren. :sad-angel:

Ich tigerte stundenlang wie ein eingesperrtes Raubtier in der Wohnung umher. Ich konnte überhaupt keine Ruhe mehr fühlen, ich war ein nervöses Nervenbündel. Keine Sekunde hatte ich meinen Frieden mehr.
Ich war panisch, verzweifelt, hochgradig erregt und hysterisch.
Ich heulte oder stierte lethargisch, aber immer voller Anspannung, in irgendeine Ecke.

Der Schlaf war vorher schon weg, aber das, was mir mit Sertralin angetan wurde, dafür finde ich keine Worte.
Wenn Leute behaupten, der Körper holt sich seinen Schlaf irgendwann schon, ist das gelogen - zumindest aus meiner Erfahrung.
Meiner holte sich den Schlaf nicht. Ich stand am Ende kurz davor psychotisch zu werden. Mein Kopf war wie in Watte, ich halluzinierte leicht. Ich konnte nicht klar denken; mein Denken hatte sich zu dem Zeitpunkt eh schon völlig verselbständigt und es war überhaupt nicht mehr zu kontrollieren.
Meinen Kopf konnte ich nicht drehen, da war sofort Schwindel da; auch der berühmte Augenschwindel, den viele vom SSRI-Absetzen kennen.
Ich war zu diesem Zeitpunkt fast zugrunde gerichtet.

Es hätte meiner Neurologin auffallen müssen, dass ich eine Akathisie entwickelte. Stattdessen wurde meine Diagnose "Erschöpfungsdepression" umgewandelt in "nervöse / agitierte Erschöpfungsdepression".
:frust: :frust: :frust: :frust: :frust:

Und es wurde auch nichts besser. Man hatte mir gesagt: "Wenn Ihre Depression behandelt wird, wird auch Ihre Schlafstörung besser".
Stattdessen erlebte ich eine fulminante Verschlechterung bis kurz vor den Wahn.
Was niemand (ich auch nicht) erkannte: ich war gar nicht depressiv (ich kaufte zu diesem Zeitpunkt jede Woche einen Blumenstrauß. Tun das Depressive?). Ich war verzweifelt und zeigte depressionsähnliche Zustände, weil ich nicht schlafen konnte. Und weil ich nicht schlafen konnte, ging mein Studium vor die Hunde, was den Verzweiflungsgrad nur noch verstärkte. Aber das ist nicht dasselbe!!!
Depression ist nicht dasselbe wie Verzweiflung !
Die Ursache von all dem war meine unerkannte PTBS / PTSD und weil ich nachts im Schlaf fast gestorben war (2001), machte sich mein Trauma nachts eben auch bemerkbar und ließ mich schlaflos da liegen. Das war der unmittelbare Grund der Insomnie, nicht irgendeine daherfabulierte Depression.

Ich werde niemals vergessen, was mir angetan worden ist.
Diese Ärztin verachte ich zutiefst. Ich hoffe, es gibt so etwas wie eine höhere kosmische Gerechtigkeit und das kommt irgendwann noch mal in Ordnung.

Akathisie und Insomnie - das ist wirklich das Schlimmste, was ich im Leben erleben musste (muss).
Die Akathisie verschwand ca. 6 Monate - 1 Jahr nach meinem Kaltentzug und sie wird niemals wiederkommen, weil ich nie wieder ein Psychopharmakon anrühren werde.

[glow=blue]Heute[/glow], im Jahr 2016, habe ich halbwegs mein Leben zurück. Ich versuche in meiner Mitte zu bleiben. Ich bin in der Regel freundlich und ausgeglichen. Mein innerer Frieden, ich nenne es gerne auch Seelenheil, ist mein Ein und Alles! Ich bin achtsam und halte viel Ruhe.
Ich hetze mich nicht; ich war viele Jahre eine gehetzte Seele, ich würde das gar nicht mehr aushalten.
Ich schlafe immer noch nicht gut oder kaum, aber es kann mich nicht mehr so angreifen. Ich liege ruhig da; nicht panisch oder verstört.
Ich kämpfe darum ins Leben zurückzufinden. :fly:


Liste eingenommener Medikamente bis zur Eskalation 2006:
Sulpirid, Amitripylin, Insidon (Opipramol), Anafranil (Clomipramin), Doxepin, Trimipramin, Amitriptylin, Promethazin, Levomepromazin, Dominal forte, Mirtazapin, Trevilor (Venlafaxin), Sertralin (Zoloft)
Benzos: Lendormin, Dalmadorm, Alprazolam (alles 3 kurz vor Klinikaufenthalt 1.9.2006)

später (2008 - 2010) : Valdoxan, 5 HTP
parallel ab 2006: 8 Jahre Abhängigkeit von Zolpidem und Zopiclon, am Ende auch Alprazolam.
Zwischendrin: immer mal wieder Diazepam, Oxazepam und auch Lorazepam

immer mal wieder Testen von Melatonin / Circadin und Ausschleichen von Amitriptylin
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