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Der Artikel wurde von LinLina für adfd.org übersetzt. Mit freundlicher Genehmigung von Christopher Lane stellen wir ihn euch auch hier zur Verfügung.
Antidepressiva-Entzugssyndrom - Warum Antidepressiva oft ein Entzugssyndrom verursachen
In seinem Artikel „Defense of Antidepressants“, erschienen in der letzten Sonntagsausgabe der New York Times, versucht Peter Kramer die kürzlich durchgeführten Metaanalyen zu SSRI-Antidepressiva in Verruf zu bringen. Diese Analysen zeigen, dass Antidepressiva ihre Wirkung größtenteils dem Placebo-Effekt verdanken. Sie legen sogar nahe, dass der Unterschied zwischen den getesteten Antidepressiva und Placebo klinisch zu vernachlässigen ist.
Da Kramer wiederholt die Forschungsergebnisse falsch zusammenfasst, wirkt seine Verteidigung dieser Medikamente nicht sehr überzeugend. Trotzdem ist es auffällig, dass er in seinem relativ langen Meinungsartikel kein Wort über die gut dokumentierten Fälle von Entzugssymptomen bei Patienten, die die Behandlung mit SSRI beenden wollen, verliert.
Im Mai 2007 schrieb Bruce Stutz aus einem völlig anderen Blickwinkel in derselben Zeitung einen langen und sorgfältigen Bericht über seine eigenen Schwierigkeiten, die Behandlung mit Effexor (Venlafaxin) zu beenden. Stutz berichtete auch von einigen klinischen Studien über dieses Phänomen.
Im Jahr 1997, fast ein Jahrzehnt nach der Markteinführung von Prozac, sponsert der Hersteller Eli Lilly laut Stutz eine Fachtagung zur steigenden Anzahl von Meldungen über Patienten mit ernsthaften Absetzsymptomen. Die Schätzungen von Pharmafirmen, allerhöchstens wenige Prozent der Antidepressiva-Patienten würden größere Schwierigkeiten haben die Behandlung zu beenden, hatten sich inzwischen als viel zu niedrig herausgestellt. Jerrold Rosenbaum und Maurizio Fava, Wissenschaftler am Massachusetts General Hospital, fanden heraus, dass 20 bis 80 Prozent aller Patienten (je nach Medikament) bei Beendigung der Behandlung unter Entzugssymptomen litten (nach der Tagung wurde dieses Phänomen in „Absetzsyndrom“ umbenannt). (Die in der Studie erwähnten Prozentangaben variierten von 22% bis 78% der Patienten. Aber auch 78% ist eine beunruhigend hohe Zahl.)
“Die Symptome des Absetzsyndroms können ziemlich heftig sein”, fügt Stutz hinzu. Er berichtet detailliert über seine beunruhigenden Probleme mit „Brain Zaps“, Panikattacken, Schlaflosigkeit und Verzweiflung bei immer niedrigeren Dosierungen von Effexor. Fava, so schreibt er, veröffentlichte 2006 eine Publikation, in der von weiteren Entzugssymptomen berichtet wird: „Agitation, Angst, Akathesie, Panikattacken, Reizbarkeit, Aggressivität, Verschlechterung der Stimmung, Dysphorie, Weinausbrüche oder Labilität, Überaktivität oder Hyperaktivität, Depersonalisierung, verminderte Konzentrationsfähigkeit, verlangsamtes Denken, Verwirrung und Gedächtnis/Konzentrationsschwierigkeiten“.
Nach Meinung der Autoren sind diese weit verbreiteten Symptome immer mehr als ein medikamentenabhängiges Syndrom aufzufassen.
Seit sich durch Rosenbaum und Fava die klinische Aufmerksamkeit auf das „Absetzsyndrom“ gerichtet hat, brachten weitere Studien ähnliche Schwierigkeiten von Patienten, die versuchten die Behandlung mit SSRI zu beenden, ans Licht.
Manchmal als Abhängigkeit betrachtet und manchmal auch fälschlicherweise als Wiederauftauchen der behandelten Grunderkrankung verstanden, werden Antidepressiva-Entzugssymptome inzwischen als eigenständiges ernsthaftes pharmakologisches Problem gesehen. Die Symptome werden, so die Begründung der Wissenschaftler, von den neurologischen Effekten der medikamenteninduzierten herunter Regulation der Neurotransmitter verursacht, die nach der Behandlung in zu geringer Menge verfügbar sind.
Wie auch Kramers Schweigen zu dem Thema von letzter Woche zeigt, gibt es einen enormen Widerstand der SSRI-Verteidiger (und natürlich auch von Seiten der Hersteller) sich mit diesem Problem zu befassen. Erst seit kurzer Zeit versuchen einige Wissenschaftler das Entzugssyndrom isoliert zu betrachten, anstatt es mit Nebenwirkungen und Mutmaßungen über das Wiederauftauchen der Grunderkrankung zu vermengen.
In „Rebound Syndrome: When Drug Treatments Fail“ *, ein Kapitel meines Buches „Shyness: How Normal Behavior Became a Sickness“** beschäftige ich mich ausgiebig mit der Produktmonographie des Herstellers GlaxoSmithKline für Paxil (Paroxetin). Die Monographie wurde aufgrund einer Vielzahl von Beschwerden über die gut dokumentierten Nebenwirkungen des Medikaments 2005 aktualisiert.
Diese „Nebenwirkungen“ zeigen eine erschreckende Ähnlichkeit zu dem von Rosenbaum und Fava bereits früher dokumentierten Absetzsyndrom. Sie reichen von Agitation, Angst, Kopfschmerzen, Zittern, Verwirrung, Durchfall, Übelkeit, Erbrechen und Schwitzen, über Bewusstseinsveränderungen wie extremer Agitation, bis hin zu Delirium und Koma.
„Kürzlich durchgeführte Analysen“ der Medikamentenwirkung auf Patienten unter 18 Jahren erfassten „Verhaltens- und Gefühlsänderungen, inklusive eines erhöhten Risikos von Suizidgedanken“ schreibt GSK widerwillig und folgt so der Entscheidung des FDA im August des vorherigen Jahres (2004) einen deutlichen Warnhinweis über das medikamenteninduzierte Suizidrisiko bei Teenagern und jungen Erwachsenen hinzuzufügen.
Die Aufzählung von „schweren agitationsartigen Behandlungsschäden“ bei Jugendlichen und Erwachsenen enthält „Selbstverletzung oder Verletzung Anderer“, sowie „Enthemmung, emotionale Labilität, unvorhersagbare Stimmungsschwankungen, Feindseligkeit, Aggression, Depersonalisierung und Akathisie“. Ein ernst zu nehmender Zustand, den keiner der Millionen Menschen, die das Medikament einnehmen, gebrauchen kann. Der Hersteller empfiehlt „strenge klinische Beaufsichtigung hinsichtlich Suizidgedanken“, eine unglaubliche Aussage für ein Unternehmen, das die Menschen immer noch auffordert, Paxil bei Ängsten vor Partys oder Befürchtungen, kritisiert zu werden, einzunehmen.
USA Today schreibt zur gleichen Zeit „20 Prozent aller weltweit in klinischen Studien mit Paxil behandelten schwer depressiven Patienten und 16,1 Prozent aller Patienten mit sozialen Ängsten in weltweiten Studien […] brachen die Behandlung aufgrund eines (durch die Behandlung verursachten) negativen Ereignisses ab.“
Im selben Kapitel dokumentiere ich weitere Hinweise über solche „Behandlungsschäden“ indem ich die vorhandene Literatur über das Absetzsyndrom zitiere. Außerdem habe ich ein Mitglied von paxilprogress.org interviewt, das die Forschung über SSRI und das Entzugssyndrom mit beeindruckender Gewissenhaftigkeit weiter verfolgt hat.
Unter dem Alias “Kate“ beschreibt sie, wie sie Paxil verschrieben bekam weil sie dachte, sie hätte eine soziale Angststörung. Anfangs sprach sie gut auf das Medikament an und reduzierte vorsichtig die Dosis als sie sich besser fühlte. „Sofort bekam ich eine überschießende Reaktion“, verzweifelte sie. „Drei Monate auf einer Art Manie…gefolgt von sechs Monaten Angst, Schlaflosigkeit, periodischen Brain Zaps und völligem Desinteresse an Sex“.
Andere Medikamente, von „wohlmeinenden Psychiatern“ verschrieben, verschlimmerten nur ihre Angst, Weinerlichkeit und das Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Sie fühlte sich mit diesen Nachwirkungen von Paxil schlechter als vor der Behandlung.
Dafür gibt es einleuchtende neurologische Gründe, erklärt Kate. Ihre Nachforschungen bestätigen warum SSRI-Antidepressiva wie Paxil ein Entzugssyndrom hervorrufen. Erstens erhöht diese Substanzklasse künstlich die Menge an Serotonin im Gehirn. Das serotonerge System ignoriert diese Erhöhung nicht, sondern passt sich an, indem es die Anzahl an 5-HT1A-Rezeptoren reduziert. Gleichzeitig benötigt das serotonerge System mehr 5-HT2-Rezeptoren um den Überschuss an Botenstoff zu absorbieren. Viele Studien sehen diese Veränderung im Zusammenhang mit der bei vielen Patienten entstehenden sexuellen Disfunktion, da diese Rezeptoren Sättigungssignale an das Gehirn senden. Im International Journal of Neuropsychopharmacology veröffentlichten Adam Opbroek und seine Mitarbeiter, dass „80% der Patienten mit einer SSRI-induzierten sexuellen Dysfunktion ebenfalls von klinisch signifikanter Gefühlsabstumpfung berichteten.
Wenn Patienten versuchen ihre Behandlung zu beenden, ja selbst wenn sie sehr vorsichtig abdosieren, erfahren viele (20 bis 78 Prozent nach Rosenbaum und Fava) die Reaktion ihres neurologischen Systems auf diesen Mangel (das für Monate, ja sogar Jahre, künstlich gesättigt war). Manche Patienten sind dann furchtbaren Symptomen wie intensiver Angst, Aggression und Schlaflosigkeit ausgeliefert.
Einige Rezeptoren, inklusive 5-HT1A, sind nicht besonders flexibel und brauchen länger um nach Behandlungsende neu gebildet zu werden. Dies verzögert die neuronale Heilung des Patienten. In der Tat fanden manche Studien die ich hierzu gelesen habe, dass sich bei manchen Patienten diese Rezeptoren gar nicht mehr normalisieren. Der Patient endet damit in einem schlechteren Zustand als vor der Behandlung (siehe z.B. „Dissociation of the Platicity of 5-HT1A Sites and 5-HT Transporter Sites“ in Paxil Research Studies 19.3 [1994], 311-15).
Der Anteil an unter dem Absetzsyndrom leidenden SSRI-Konsumenten ist also, für pharmakologische Standards, astronomisch hoch. „Einer von zehn Amerikanern“, etwa 30 Millionen Menschen alleine in den USA, nehmen diese Medikamente jedes Jahr ein. Daher erscheint es so unglaublich, dass klinische Studien das Entzugssyndrom beim Abdosieren erst so spät entdeckt haben. Die hohe Anzahl an Betroffenen würde normalerweise die Forschung auf diesem Gebiet viel schneller vorantreiben.
Die gute Nachricht ist jedenfalls, dass die Forschung jetzt anfängt sich auf das weit verbreitete Problem des SSRI-Entzugssyndroms zu konzentrieren. Obwohl die Pharmaindustrie mit allen Kräften versucht hat das Entzugssyndrom als Wiederauftauchen der Erkrankung einzustufen und damit Ärzte und Patienten zu verwirren.
Heute, in ihrem siebten Jahr der Genesung vom schweren Paxil-Entzugssyndrom, betreibt „Kate“- auch unter dem Namen „Altostrata“ bekannt – die Webseite „Surviving Antidepressents“. Hier werden Forschungsergebnisse und Daten speziell über das Entzugssyndrom gesammelt. Kate reagiert immer noch „hochsensibel auf neuroaktive Medikamente“ und erholt sich von schweren Rückschlägen die sie 33 Monate nach dem Absetzen erlebte. Mit der Hilfe der Behandlung ihres Arztes, der das Entzugssyndrom studiert hat, erholt sie sich langsam.
Neben der Unterstützung von Patienten die damit kämpfen die SSRI-Einnahme ohne massive schädliche Probleme zu beenden informiert „Surviving Antidepressants“ über aktuelle Forschung, einschließlich der von Dr. Carlotta Belaise. Sie ist eine Kollegin von Fava und häufige Co-Autorin in wissenschaftlichen Publikationen bezüglich der Langzeiteinnahme von Antidepressiva. Während Dr. Fava’s Forschung kürzlich auf Webseiten wie The Daily Beast veröffentlicht wurde, sammelt Dr. Belaise, Forschungsmitglied im Affective Disorders Program der Psychologischen Fakultät der Universität von Bologna, Italien, Daten über das Antidepressiva-Entzugssyndrom. „Das,“so schreibt sie, „unserer Meinung nach ein extrem wichtiges, häufiges und heikles klinisches Problem ist.“
Daher sollten Patienten, die wegen der schädlichen Wirkung ihrer Medikamente besorgt sind, zur eigenen Sicherheit AUF KEINEN FALL die Einnahme abrupt beenden. Sie sollten anstatt dessen ihre Dosis sehr vorsichtig schrittweise über mehrere Monate, in Absprache mit dem Arzt, reduzieren.
Für alle die mehr über SSRI Entzugssyndrom wissen wollen, folgt eine Liste von Links zu Artikeln (von Altostrata für diesen Blog zusammengestellt) die auf „Surviving Antidepressants" zu finden sind. Die große Anzahl an Betroffenen stehen für Altostrata’s Beitrag zur Dokumentation und Erhöhung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit tief in ihrer Schuld. Die Ergebnisse von Dr. Belaise’s Untersuchung sind unter dem Artikel zu finden. Sie zeigen, dass 58% der untersuchten Patienten „langanhaltende Symptome nach dem Absetzen beschreiben: 3 von 3 Paroxetin-Patienten, 2 von 2 Citalopram-Patienten, 1 von 1 Fluvoxamin, 1 von 3 Escitalopram und keiner der Setralin- und Fluoxetin-Patienten“.
*Rückfall-Syndrom: Wenn die Behandlung durch Medikamente versagt
**Schüchternheit: Wie ein Persönlichkeitsmerkmal zur Krankheit wurde
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