Ich nahm Escitalopram in der Dosis 10 mg über einen Zeitraum von ungefähr 5 Jahren ein. Auslöser war eine leichtere bis mittlere Depression. Aus heutiger Sicht denke ich, dass das nicht notwendig gewesen wäre…
Ich will nicht sagen, dass ich nicht das Gefühl hatte, das Medikament hätte mich etwas stabilisiert (werde aber natürlich nie wissen, wie es mir ohne ergangen wäre).
Dennoch sehe ich nun im Nachhinein, dass mich Escitalopram schleichend über die Jahre kränker und kränker gemacht hat: Mundtrockenheit, Schlaf wie ein Stein (ich kann mich an halbstündige Mittagsschläfchen erinnern, aus denen ich aus einem unglaublichen Tiefschlaf erwachte), ein paar Kilo Gewichtszunahme, aufgeblähter Bauch/gestörte Darmflora, Infektanfälligkeit, schnelles Schwitzen, sexuelle Unlust, Kurzatmigkeit (von Jahr zu Jahr mehr und eigentlich ein Alarmzeichen). Vor allem so 1-2 Jahre vor dem Absetzen ist mein System dann irgendwie aus dem Gleichgewicht geraten und ich entwickelte eine bronchiale Hyperreagibilität und chronisch entzündete Nebenhöhlen; ich denke heute, dass auch diese Leiden großteils durch Escitalopram verschuldet waren.
Interessanterweise akzeptierte ich diese Dinge mit den Jahren fast als „Teil von mir“ und nicht als Teil des ADs…
Nach knapp 5 Jahren Einnahme wollte ich Escitalopram dann endlich loswerden. Mir ging es über die Jahre eigentlich ganz gut, doch ich hatte einige Umbruchsphasen im Leben und mein Psychiater sagte mir mehrmals, dass man in solchen nicht absetzen solle. So nahm ich es von Jahr zu Jahr eben weiter.
Das Absetzen gestaltete sich so, dass ich im Oktober 2018 in Absprache mit meinem Psychiater meine Dosis von 10 mg einfach halbierte. Die Monate danach war emotional und gesundheitlich etwas holprig, aber ich führte das mehr auf ein paar andere Faktoren als auf Escitalopram zurück. Mein Arzt meinte beim nächsten Termin, wenn mir dann danach sei, dann könne ich Escitalopram ganz weglassen… Ich wusste zwar, dass man diese Medikamente ausschleichen muss, glaubte aber – na gut, wenn der Arzt das sagt, dann wird es mit diesem Zwischen-Reduktionsschritt wohl mit dem Ausschleichen getan sein… Also ließ ich Mitte März 2019 Escitalopram eben einfach weg… Ich hielt das ein paar Tage aus. Mir war in diesen Tagen ziemlich schwindlig und ich war sehr müde. Ich nahm dann ein paar Tage später nochmals eine Tablette mit 5 mg; hielt wieder ein paar Tage ohne aus; und so war das 2 Wochen bis zu meinem nächsten Termin – bei dem mir mein Arzt dann sagte „Ach so, ja, es gibt auch Tropfen, mit denen Sie milligrammweise reduzieren können.“ Tja… Ich habe dann so alle 2-3 Tage mal noch 2 Tropfen (2 mg) genommen, dann alle paar Tage 1 Tropfen, und zwar immer dann, wenn es mit dem Schwindel relativ schlimm wurde. Am 18.04.2019 nahm ich das letzte Mal einen Tropfen Escitalopram, seitdem bin ich auf 0 mg. Als ich beim folgenden Termin meinem Arzt erzählte, dass das schon relativ blöd war, dass ich das nicht gleich so gemacht hatte, sagte er „…aber Sie haben es ja geschafft.“ Und eigentlich sah ich es auch so; für mich war das Thema damit eigentlich durch
Das alles fand gefühlt auf einem Nebenschauplatz meines Lebens statt und ich maß dem Absetzen gar keine so große Wichtigkeit bei (was, wie ich finde, auch eindeutig dafür spricht, dass es sich bei mir nicht um einen Placebo/Nocebo-Effekt handelt).
Die Monate darauf geriet ich gesundheitlich mehr und mehr aus der Bahn.
Ich konnte
- nicht mehr richtig essen (einige Monate lang wurde mir eigentlich von allem übel und ich bekam einen Druck auf dem Magen, ich aß eigentlich fast nur Reiswaffeln in dieser Zeit)
- nicht mehr richtig atmen (es gab so viele Tage, da lag ich auf dem Rücken auf dem Sofa und musste mich richtiggehend auf mein Zwerchfell konzentrieren, damit ich es „richtig herum“ bewege)
- nicht mehr richtig sprechen (die Muskeln im Hals machten oft einfach zu – monatelang war ich bei der Logopädie deswegen, die das aber natürlich auch noch nie bei jemandem so hatte)
- nicht mehr richtig schlafen (und jeder, der das im Entzug einmal mitgemacht hat, weiß, wie belastend es ist, nächtelang einfach so gut wie gar nicht zu schlafen)
- nicht mehr richtig sehen/fokussieren (meine Augen waren permanent angestrengt, alles war zu hell und zu schnell)
- nicht mehr richtig fühlen (ich war emotional plötzlich wieder völlig aus der Bahn; unsicher; nervös; labil; aber ich konnte es irgendwie überhaupt nicht zuordnen)
- nicht mehr richtig denken (eigentlich war ich von allem überfordert)
- …und dann noch einige relative Kleinigkeiten wie Schreckhaftigkeit, erhöhte Entzündungswerte, Hautprobleme, Unterleibsschmerzen, inneres Vibrieren,…
Trotzdem brauchte ich tatsächlich einige Monate, bis ich gedanklich den Bogen zu Escitalopram fand und mir das alles klar wurde. Ende Juli 2019 war ich nach einem kurzen Arzttermin innerlich total unruhig und zittrig und brauchte Stunden, bis ich zu Hause wieder runterkam, was ich so nicht von mir kannte. Das war der Tag, an dem ich das erste Mal in Erwägung zog, dass es irgendwas mit Escitalopram zu tun haben könnte. Also googelte ich – und fand das ADFD! Und es fiel mir wie Schuppen von den Augen! Da ich zu diesem Zeitpunkt schon über 3 Monate auf 0 mg war, beließ ich es dabei…
Wenn ich aus heutiger Sicht so rekapituliere, so war es grob ein Jahr, in dem ich im akuten Entzug steckte und in dem es mir wirklich nicht gut ging. Irgendwie habe ich es die ganze Zeit geschafft zu arbeiten, aber das auch nur, weil ich schon damals recht viel im Homeoffice arbeiten konnte und mein katastrophaler Zustand dadurch wohl nicht so aufgefallen ist… Ansonsten aber habe ich mich in diesem Jahr sehr zurückgezogen und sehr viele Tage liegend auf dem Sofa verbracht und einfach darauf gewartet, dass der nächste Tag kommt und ich wieder einen Tag mehr überstanden habe. Und Tag für Tag habe ich so irgendwie rumgebracht.
Mit meinem zweiten Entzugsjahr kam die Pandemie, und auch diese ist bei mir gedanklich sehr mit dem Entzug verknüpft – es war damals 2020 für mich unglaublich befreiend, dass die ganze Welt nun quasi stillstand und nicht nur ich. Und bis heute habe ich es geschafft, mich so gut vor Corona zu schützen, dass ich bisher keine Infektion hatte. Auch das hängt eng mit meinem Entzug zusammen, denn ich habe inzwischen die These vom überstimulierten Alarmsystem (s.u.) für sowohl Entzug als auch LongCovid adaptiert und sehe mich – geprägt durch die Erfahrungen der Entzugszeit – hierfür leider immer noch vulnerabler als andere.
Später 2020 – mir ging es langsam aber stetig besser – kauften mein Mann und ich ein Haus und renovierten über 2 Jahre lang sehr viel daran selbst. Es ging irgendwie, doch ich würde das im Nachhinein nicht als den idealen Zeitpunkt dafür sehen und vielleicht nicht mehr so machen. Ich bin heute der Ansicht, dass ich mein immer noch gereiztes Nervensystem dadurch dauerhaft in einem überstimulierten Modus gehalten habe und hier immer noch nicht richtig wieder herausgefunden habe. Und auch ein paar Symptome ziehe ich noch so mit:
- Ich bin immer noch ziemlich schreckhaft; und auch noch öfters überfordert
- mein Schlaf ist in vielen Nächten recht gut, aber manchmal reicht eine Kleinigkeit kurz vor dem ins Bett gehen immer noch aus, um mich nervlich die ganze Nacht über in einem Alarmmodus zu halten
- morgens nach dem Aufwachen, wenn mich mein Gehirn mit Gedanken bombardiert, fängt meine Nase an zu laufen und ich muss es dann erst wieder schaffen, das System zu beruhigen, damit das aufhört
- meine Überreizung merke ich inzwischen oft an einem ganz unangenehmen Kältegefühl/Kribbeln im Rückenmark
Ansonsten bin ich in den letzten Jahren relativ sportlich geworden, auch weil mein Therapeut mir mal gesagt hat, dass ein regelmäßiger erhöhter Puls das Nervensystem beruhigen soll. Ich musste mich da teilweise ganz schön durchbeißen, doch inzwischen fühle ich mich körperlich so fit wie die letzten 15 Jahre nicht.
Generell bin ich insgesamt in diesen letzten Jahren ein komplett anderer Mensch geworden. Das ist nicht ausschließlich schlecht, aber es ist auch nicht geschehen, weil ich es wollte. Ich würde schon sagen, dass das, was mir passiert ist, so eine Art Trauma ist – ich bin so skeptisch gegenüber dem Gesundheitswesen und Ärzten geworden und habe generell zum Thema Gesundheit eine komplett andere, selbstbestimmte Einstellung bekommen. Vielleicht war es zumindest gut, dass ich das in noch einigermaßen jungen Jahren so gelernt habe.
Wichtig ist mir aber, diesen Post hiermit abzuschließen: Es geht vorbei!
Alles Liebe,
nadelwaldfichte