Originalstudie: Designing withdrawal support services for antidepressant users: Patients’ views on existing services and what they really need Journal of Psychiatric Research, Mai 2023
Dr. Mark Horowitz, Prof. Joanna Moncrieff (University College London), Prof. John Read (University of East London) und Dr. Ed White führten von Mai 2021 bis April 2022 eine Online-Befragung von Betroffenen durch, die Antidepressiva abgesetzt haben.
Der Zweck der Befragung war laut den Autoren ein besseres Verständnis von Erfahrungen beim Absetzen von Antidepressiva zu entwickeln. Die Ergebnisse der Befragungen sollten dem britischen Gesundheitssystem (und anderen Gesundheitssystemen auf der ganzen Welt) zur Verfügung gestellt werden, um herauszufinden, welche Leistungen zur Unterstützung Betroffener benötigt wären.
Die Ergebnisse dieser Umfrage, an der sich auch Mitglieder der Foren ADFD und PsyAb beteiligt haben, wurde nun veröffentlicht.
Gestaltung von Diensten zur Entzugsunterstützung für Antidepressiva-Anwender: Die Ansichten der Patienten zu bestehenden Diensten und darüber, was sie wirklich brauchen (John Read, Joanna Moncrieff, Mark Horowitz)
Teilübersetzung:
Abstract:
Hintergrund
Public Health England hat aufgrund eines aktuellen Versorgungsmangels empfohlen, Dienste einzurichten, um Menschen zu unterstützen, die sich entscheiden, Antidepressiva zu entziehen. Diese Studie untersucht, welche Ansichten Mitglieder von Online-Entzugs-Selbsthilfegruppen über die bestehende Gesundheitsversorgung haben und welche zusätzliche Unterstützung benötigt wird.
Methodik
Die Administratoren von 15 Online-Selbsthilfegruppen für Menschen, die Antidepressiva absetzen, wurden gebeten, eine Online-Umfrage unter ihren Mitgliedern zu bewerben. An der Umfrage, die von Mai 2021 bis April 2022 online war, nahmen 1276 Personen aus 49 Ländern teil.
Ergebnis
71 % der Befragten fanden die Ratschläge ihrer Ärzte in Bezug auf das Absetzen eines Antidepressivums nicht hilfreich (57 % "sehr wenig hilfreich"). Die Hauptgründe waren "Empfahl eine Reduktionsgeschwindigkeit, die für mich zu schnell war", "Kannte sich nicht gut genug mit Entzugssymptomen aus, um mich beraten zu können" und "Meinte, das Absetzen von Antidepressiva würde keine Entzugssymptome verursachen".
Jeder Dritte ließ sich bei der Entscheidung, ob er entziehen wollte, nicht von seinen verschreibenden Ärzten beraten, wobei die Hauptgründe waren: "Ich hatte das Gefühl, dass sie mich nicht unterstützen würden" (58 %) und "Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht über das Fachwissen verfügten, um mir zu helfen" (51 %). Die häufigsten Antworten der verschreibenden Ärzte auf diejenigen, die Rat suchten, waren "Schlug einen schnellen Entzugsplan vor" (56 %) und "Nicht unterstützend und bot keine Anleitung an" (27 %). Die häufigsten von Ärzten empfohlenen Entzugszeiten waren ein Monat (23 %) und zwei Wochen (19 %).
Eine Reihe potenzieller professioneller Dienstleistungen wurde als "sehr nützlich" eingestuft: Am häufigsten: "Zugang zu kleineren Dosen (z. B. Tapering Strips, Flüssigpräparate, Tabletten mit kleinerer Dosis) zur Ermöglichung einer schrittweisen Reduktion" (88 %) und "Eine medizinische Fachkraft, die einen personalisierten, flexiblen Reduktionsplan anbietet" (79 %).
Einschränkungen
Dies war eine willkürliche Stichprobe (convenience sample*), die möglicherweise verzerrt wurde im Hinblick auf Personen, die für den Entzug länger brauchten und mehr Entzugssymptome aufwiesen als Antidepressiva-Anwender im Allgemeinen. Schwarze Menschen und ethnische Minderheiten sowie Menschen ohne Zugang zum Internet waren unterrepräsentiert.
Schlussfolgerungen
Die meisten Teilnehmer berichteten, dass ihre verschreibenden Ärzte ihnen nicht helfen konnten, Antidepressiva sicher abzusetzen, was sie dazu zwang, sich stattdessen an Online-Selbsthilfegruppen zu wenden. Unsere Ergebnisse deuten in Übereinstimmung mit früheren Studien darauf hin, dass Kliniker eine Weiterbildung in Bezug auf das sichere Ausschleichen von Antidepressiva benötigen und dass Patienten spezialisierte Dienstleistungen benötigen, die ihnen helfen, sicher abzusetzen.
Schlussfolgerung:
Laut unserer Stichprobe von über 1200 Antidepressiva-Anwendern und anderen verwandten Studien sind die derzeitigen Gesundheitssysteme nicht gut gerüstet, um Menschen dabei zu helfen, Antidepressiva sicher abzusetzen. Schlecht informierte Ärzte empfehlen Reduktionsschritte, die zu schnell sind und den Patienten erhebliche Probleme bereiten, was sie dazu zwingt, online Hilfe zu suchen.
Es scheint, dass die medizinische Ausbildung und die medizinischen Systeme eher darauf ausgerichtet sind, Medikamente zu verschreiben, als sie zu stoppen. Das schadet den Patienten. Es sind klarere, detaillierte Richtlinien für das sichere Absetzen von Antidepressiva notwendig, sowie eine systemweite Weiterqualifizierung des klinischen Personals, einschließlich der Einrichtung spezialisierter Dienste, um diese Versorgung anzubieten.
Zu den Schlüsselkomponenten dieser Dienstleistungen gehören Kliniker, die über gute Kenntnisse verfügen, um ein sicheres Ausschleichen zu gewährleisten, Zugang zu Darreichungsformen von Medikamenten (z.B. Flüssigkeiten oder angefertigte Medikamente), angemessene Ressourcen für die Beobachtung und Anpassung der Ausschleichprozesse der Patienten und die Anerkennung des erheblichen Leidens, das der Entzug verursachen kann.
Die Sorgen der Patienten um ihre Gesundheit müssen ernst genommen werden, was möglicherweise durch die allgegenwärtige Unternehmenskommunikation (corporate messaging), und deren Auswirkungen auf offizielle Leitlinien und das Wissen der Ärzte, beeinträchtigt wird.
Quelle: Read, J., Moncrieff, J., & Horowitz, M. (2023). Designing withdrawal support services for antidepressant users: Patients’ views on existing services and what they really need. Journal of Psychiatric Research, (161), 298-306. https://doi.org/10.1016/j.jpsychires.2023.03.013
Die Originalarbeit steht unter einer Creative Common Lizens:
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Erläuterungen:
*Convenience Sample: bezeichnet eine nicht repräsentative Stichprobenauswahl aufgrund einfacher Verfügbarkeit der Studienteilnehmer
weiterer Artikel zur Studie: Studienergebnisse zeigen, dass verschreibende Ärzte Patienten beim Absetzen von Antidepressiva häufig nicht unterstützen auf MIA (auf Deutsch anzeigbar)
Gestaltung von Diensten zur Entzugsunterstützung für Antidepressiva-Anwender: Die Ansichten der Patienten (Read et al.)
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Gestaltung von Diensten zur Entzugsunterstützung für Antidepressiva-Anwender: Die Ansichten der Patienten (Read et al.)
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Der Bedarf an Unterstützungsdiensten für den Antidepressiva-Entzug: Empfehlungen von 708 Patienten; (Read et al.)
Die Autoren der vorangegangenen Studie haben eine weitere Arbeit mit Ergebnissen ihrer Online-Umfrage veröffentlicht:
Originalarbeit: The need for antidepressant withdrawal support services: Recommendations from 708 patients
Psychiatry Research, Volume 326, August 2023
Der Bedarf an Unterstützungsdiensten für den Antidepressiva-Entzug: Empfehlungen von 708 Patienten (Read, J., Lewis, S., Horowitz, M., & Moncrieff, J. et al.)
Hauptaussagen:
Aus dem Abstract:
"708 Mitglieder von Online-Selbsthilfegruppen für Antidepressiva einnehmenden Menschen aus 31 Ländern vervollständigten in einer Online-Umfrage den Satz: "Ein öffentlicher Gesundheitsdienst, der Menschen hilft, von Antidepressiva loszukommen, sollte................umfassen". Zwei unabhängige Forscher kategorisierten ihre Antworten in Themengebiete und erzielten dann in einer Diskussion einen Konsens. Sieben Themen kristallisierten sich heraus: "Rolle des verschreibenden Arztes", "Information", "Sonstige Unterstützung/Dienstleistungen", "Starke negative Gefühle in Bezug auf Ärzte/Dienstleistungen usw.", "Einverständniserklärung bei Verschreibung", "Arzneimittelunternehmen" und: "Kampagne für die öffentliche Gesundheit"."
Das Papier enthält zudem 125 direkte Zitate von Teilnehmern, die ausdrücken, wie das Gesundheitssystem - einschließlich Pharmaunternehmen - zu ihrem durch Antidepressiva ausgelöstem Leiden beigetragen haben.
Die obigen Einschränkungen der Studie gelten auch für dieses Papier.
Schlussfolgerung der Forscher:
Quelle: Read, J., Lewis, S., Horowitz, M., & Moncrieff, J. (2023). The need for antidepressant withdrawal support services: Recommendations from 708 patients. Psychiatry Research, 326, 115303
Die Originalarbeit steht unter einer Creative Common Lizens:
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weiterer Artikel zur Studie:
Patienten äußern sich verärgert über die Unwissenheit der Ärzte über die Wirkung von Antidepressiva-Entzugserscheinungen
auf MIA (auf Deutsch anzeigbar)
Originalarbeit: The need for antidepressant withdrawal support services: Recommendations from 708 patients
Psychiatry Research, Volume 326, August 2023
Der Bedarf an Unterstützungsdiensten für den Antidepressiva-Entzug: Empfehlungen von 708 Patienten (Read, J., Lewis, S., Horowitz, M., & Moncrieff, J. et al.)
Hauptaussagen:
- Die meisten der 708 Anwender von Antidepressiva beschreiben, dass der Arzt, der ihnen ihrer Medikamente verschrieben hat, nicht über Entzugserscheinungen informiert war.
- Außerdem wurde beschrieben, dass die verschreibenden Ärzte nicht in der Lage waren, den Entzug von Antidepressiva wirksam zu unterstützen.
- Zu den Empfehlungen gehörten individuelle, schrittweise Entzugspläne mit kleinen Dosen, Flüssigkeiten oder Tapering Strips.
- Psychotherapie, Selbsthilfegruppen, von Patienten geführte Dienste, Ernährungsberatung und 24-Stunden-Krisenunterstützung wurden ebenfalls vorgeschlagen.
- Berufsverbände sollten dringend evidenzbasierte Informationen über den Entzug an Hausärzte und Psychiater weitergeben.
Aus dem Abstract:
"708 Mitglieder von Online-Selbsthilfegruppen für Antidepressiva einnehmenden Menschen aus 31 Ländern vervollständigten in einer Online-Umfrage den Satz: "Ein öffentlicher Gesundheitsdienst, der Menschen hilft, von Antidepressiva loszukommen, sollte................umfassen". Zwei unabhängige Forscher kategorisierten ihre Antworten in Themengebiete und erzielten dann in einer Diskussion einen Konsens. Sieben Themen kristallisierten sich heraus: "Rolle des verschreibenden Arztes", "Information", "Sonstige Unterstützung/Dienstleistungen", "Starke negative Gefühle in Bezug auf Ärzte/Dienstleistungen usw.", "Einverständniserklärung bei Verschreibung", "Arzneimittelunternehmen" und: "Kampagne für die öffentliche Gesundheit"."
Das Papier enthält zudem 125 direkte Zitate von Teilnehmern, die ausdrücken, wie das Gesundheitssystem - einschließlich Pharmaunternehmen - zu ihrem durch Antidepressiva ausgelöstem Leiden beigetragen haben.
Die obigen Einschränkungen der Studie gelten auch für dieses Papier.
Schlussfolgerung der Forscher:
Die Empfehlungen unserer Befragten, die auf bitteren Erfahrungen beruhen, und die Empfehlungen der vorangegangenen Umfragen, denen sie zustimmen, sollten nicht länger ignoriert werden. Sie sollten so schnell wie möglich umgesetzt werden (Davies et al., 2023). So einfach und so schwierig ist das.
Insbesondere besteht ein dringender Bedarf, dass Ärzte Entzugssymptome erkennen und von Rückfällen zu unterscheiden lernen, sowie dass sie über detailliertes Wissen verfügen, wie Antidepressiva sicher abgesetzt werden können.
Den Patienten muss Zugang zu Darreichungsformen von Medikamenten (z.B. Flüssigkeiten oder individuell angefertigten Medikamenten) gewährt werden, die ein sicheres und individuelles Ausschleichen ermöglichen. Für einige Patienten ist auch ein Zugang zu spezialisierten Diensten nötig, die eine sorgfältige Überwachung und Anpassung des Ausschleichens ermöglichen.
Die Folge der Nichtbereitstellung dieser Dienstleistungen ist der Verlust des Vertrauens in das medizinische System.
Quelle: Read, J., Lewis, S., Horowitz, M., & Moncrieff, J. (2023). The need for antidepressant withdrawal support services: Recommendations from 708 patients. Psychiatry Research, 326, 115303
Die Originalarbeit steht unter einer Creative Common Lizens:
Creative Commons
This is an open access article distributed under the terms of the Creative Commons CC-BY license, which permits unrestricted use, distribution, and reproduction in any medium, provided the original work is properly cited.
weiterer Artikel zur Studie:
Patienten äußern sich verärgert über die Unwissenheit der Ärzte über die Wirkung von Antidepressiva-Entzugserscheinungen
auf MIA (auf Deutsch anzeigbar)
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