Erfahrungsbericht Karel: "Ich bin gesund" - Genesung nach langjähriger Psychopharmakaeinnahme, zuletzt Lithium abgesetzt

Berichte von Betroffenen, die bereits Antidepressiva, Benzodiazepine, Neuroleptika (Antipsychotika) oder Phasenprophylaktika abgesetzt haben
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Erfahrungsbericht Karel: "Ich bin gesund" - Genesung nach langjähriger Psychopharmakaeinnahme, zuletzt Lithium abgesetzt

Karel hat über 15 Jahre Psychopharmaka eingenommen, darunter diverse Antidepressiva (Doxepin, Escitalopram, Venlafaxin, Duloxetin,Amitriptylin), Neuroleptika (Quetiapin, Dipiperon) und Lithium. Bis auf Lithium wurden alle kalt abgesetzt oder umgestellt. Lithium hat er als letztes Psychopharmakon mit Microtapering ausgeschlichen.
Mit seiner freundlichen Genehmigung stellen wir seine Erfolgsgeschichte hier ein.


Wichtiger Hinweis: Bei Lithium handelt es sich um Retardtabletten. Retardtabletten dürfen nicht zerkleinert werden, lediglich teilen an speziell dafür vorgesehene Teilkerben ist gestattet.
Falls man entgegen der Herstellerangaben auf eigene Verantwortung weiter zerkleinern möchte, sollte dies mit einem Arzt abgesprochen sein, die Dosis evtl. auf mehrere Einnahmen verteilt werden und der Lithiumspiegel engmaschig überwacht werden.



Hallo,

Meine Geschichte:

2008 erhielt ich die Diagnose „Angst und Depression gemischt“.
Darauf folgte eine Ersteinstellung auf Doxepin.
Vorher hatte ich viel gekifft und durch einen familiären Vorfall ist ein Kindheitstrauma ausgebrochen welches zu Panikattacken, schweren Unruhezuständen und Dissoziationen führte.

Das verstehe ich erst heute.
Damals ging, dass alles recht schnell und oberflächlich, die Diagnostik war kurz und knapp und zack wurde ein Psychopharmakon angesetzt.

Die Jahre danach erhielt ich nachdem ein Psychopharmakon nicht mehr richtig wirkte, oder eine ärztlich angeordnete Dosisreduktion zu Destabilisierung führte, zumeist eine Neueinstellung.
So vergingen Jahre, die Nebenwirkungen wie Gefühlsverflachung, starkes schwitzen, Probleme mit der Libido, Gewichtszunahme und Sehstörungen nahm ich in Kauf.
Es war nicht so dramatisch da ich mich daran gewöhnte.
Auf Venlafaxin blieb ich ca. 5 Jahre stabil.
Mein Psychiater beschloss dann Mitte 2017, da es mir in allen Belangen des Lebens (Beruf, Sport, Partnerschaft) gut ging, die Dosis von 225mg über ca. 4 Monate auf 37,5mg runterzufahren.
Das ging nicht gut. Zeitverzögert setzten unangenehme Symptome ein, im weiteren Verlauf wurde es immer schlimmer.

Es folgten Neueinstellungen, Wiedereinstellungen, mehrere Klinikaufenthalte.
Ich verlor meine Arbeit, wurde berentet, und war körperlich und psychisch ziemlich fertig.
2019 fand ich dann das ADFD und ich verstand immer mehr das Psychopharmaka nicht so harmlos und risikoarm sind wie Ärzte es mir immer erklärten.
Ich startete meinen Weg zur Medikamentenfreiheit obwohl ich „stabil“ auf Amitriptylin und Lithium war.

Es war ein furchtbarer Zustand.
Wie unter einer Glocke, chemisch kastriert im Kopf und in der Seele.
Ich und mein Nervensystem waren durch den vorherigen Venlafaxinentzug und das Ausprobieren von Cymbalta sowie einer gescheiterten Wiedereindosierung von Venlafaxin mit Seroquel stark irritiert.
Lithium und Amitriptylin waren ziemlich dämpfend, bzw. sie schossen mich endgültig ab.

Den Schwierigkeiten beim Absetzen von Amitriptylin, die Kaltentzüge in der Klinik, das Abdosieren von Dipiperon und das wirklich entwürdigende Verhalten des Pflegepersonals und der Ärzteschaft, das Ignorieren der eigenen Wahrnehmung, das Abwerten und Belächeln der eigenen Erfahrung mit den Medikamenten, Das leugnen der Schwere und Dauer einer Entzugsproblematik, das Leid meiner Angehörigen und mir, das Alles erspare ich Euch und mir.
Viele werden es kennen.

Auch wie Entzug sich anfühlt, den Blumenstrauß an Symptomen die viele kennen, Wellen
und Fenster will ich nur kurz anreißen.
Ich kann sagen ich hatte wirklich viele.
Angst, Aggressionen, Brain Zaps, Depression, Panikattacken, DP, DR, Terror, Nadelstiche, Kribbeln, Stimmungsschwankungen, Suizidalität, Herzrasen, Gedankenrasen, Unruhe, Akathasie, Abbau von intellektuellen Fähigkeiten, Halluzinationen, Spannungszustände, Weinkrämpfe, Kopfschmerzen, Spastische Zuckungen, Schlafstörungen, Hitze und Kälte im Körper, Durchfall und Verstopfung, Nerven und Muskelschmerzen und die sozialen Erscheinungen in Form von z.B. Isolation.

Das finale Absetzen von Lithium, dem letzten Psychopharmakon wurde durch eine Prostataentzündung mit starken Schmerzen angestoßen.
Ich war recht suizidal aufgrund der Schmerzen und der Entzugshölle in der ich mich befand und der Urologe meinte, dass das Lithium störend auf meine Nieren und Harnwege einwirken könnte.
Also machte ich mich nochmal schlau und fand eine tolle Frau aus Frankreich welche Lithium per Microtapering losgeworden ist.
Sie nutze eine Feinwaage, Sandpapier und ging recht konsequent vor.
Ich reduzierte Lithium dann über gut 2 Jahre von 450 mg auf 80 mg und sprang bei 80 mg dann ab.

Lithium ließ sich gut mit Sandpapier auf die gewünschte Dosis bringen.

Erst mit dem Messer grob zu geschnitten und dann mit Schleifpapier die Feinjustierung auf xxxmg.
Der erste Cut waren glaub ich 30mg Wirkstoff weniger.

In Folge habe ich teilweise täglich 1mg Wirkstoff weggelassen, manchmal auch 5-10mg auf einmal.
Ich hab es aus dem Bauch heraus gemacht und immer in mich reingespürt.
In der Regel hab ich ab Tag 5:nach einem größeren Sprung Symptome gemerkt.
Hielt dann 2-3 Tage wo es unangenehm war.
Die Schmerzen hatte ich eh dauerhaft. Reizbarkeit, Schlafstörungen und Unruhe waren dann das Problem was akut immer wieder auftrat.
Nachts nach Einnahme war ich manchmal etwas wirr im Kopf und konnte schlecht schlafen.

Vielleicht wäre es schonender gewesen Lithium auf zwei Dosen am Tag zu jeweils 225mg zu teilen und von einer etwas zu nehmen bis man nur noch eine Dosis von 225mg pro Tag hat.

Es gab Zeiten da verlief es einfacher und Zeiten da war es herausfordernd.
Auch hielt ich teilweise über Wochen eine Dosis.
Ich habe es nicht aufgezeichnet.
Es ist auch nicht relevant da ich gemerkt habe das jeder seinen eigenen Weg finden muss und ein starres Absetzschema nicht für mich funktioniert.
Jedoch sind die 10% Regel immer mein grober Rahmen gewesen.
Ich hatte auch hier Entzugserscheinungen, leider auch schwere in Form von Nervenschmerzen welche ziemlich unangenehm waren.
Gut 2 Jahre Schmerzen im Genitalbereich sind nicht cool.
Mir wurde Lyrica und Tramadol angeboten, habe mich aber auf eine Dauergabe nicht eingelassen.

Dies bringt mich zu einem Tool was mir wirklich geholfen hat und meinen Blick auf Schmerzen und Entzug nochmal erweitert hat.

Es gibt Therapien für Menschen mit chronischen Schmerzen und CFS/ME.
Brain Retraining heißt das.
Es gibt große Anbieter mit Kursen wie Gupta oder DNRS, Apps wie Curable oder auch viele Youtuber welche Dir dabei helfen mit Videos oder auch Einzel-/ Gruppencoachings.
Die Theorie ist das Dein Nervensystem durch Stress, unterdrückte Gefühle, Entzug usw. in einem konstanten Kampf und Fluchtmodus ist und daher unangenehme Empfindungen in Deinem Körper verursacht.

Eine Entspannung des Nervensystems und ein Neutraining von Glaubensätzen, Annahmen über Sich und die Welt, sowie Techniken zur Selbstberuhigung (Atmung, Selbstgespräche, Selbstfürsorge, Aufgabe von Vermeidungsverhalten, Körperarbeit usw.) helfen dabei Dir wieder gesund zu werden.

Dies hat mir final geholfen dahin zu kommen wo ich jetzt bin.
Ich lebe wieder mit meiner Frau und meinen Kindern zusammen, welche sich getrennt hatte, weil sie den Entzugswahnsinn nicht mehr ertrug, ich gehe wieder zum Sport, ich bewerbe mich wieder auf Arbeit.

Ich habe bis auf die sozialen Folgen des Entzugs wie Arbeitslosigkeit, Berentung, keine Freunde und Isolation nun keine klassischen Entzugssymptome mehr.
Ich kann Autofahren, zwar mit Angst auf der Autobahn, aber das ist nicht schlimm, in den Urlaub fahren geht, schlafe normal, fühle mich normal in meinem Körper, versuche mein Leben wieder in Bahnen zu lenken die mir gefallen, öffentliche Veranstaltungen und Treffen gehen, Gefühle sind da.
Kaffee macht leider aber der zweiten Tasse unruhig, aber das ist okay. Trinke ihn nicht so oft.
Dieses Jahr hatte ich auch als Wahlhelfer gearbeitet und ein Casting beim örtlichen Theater mitgemacht wo ich dann auch mitmachen konnte.

Mein Psychologe geht davon aus das ich ADHS hab, das deckt sich auch mit meiner Kindheitserfahrung.
Das Entwicklungstrauma konnte ich durch Kontaktabbruch zur Mutter sowie mit Hilfe eines Hypnosetherapeuten gut bearbeiten.

Ich finde es gut, dass es dieses Forum hier gibt.
Es hilft Betroffenen Ihre eigene Wahrnehmung bestätigt zu wissen, sich wieder selbst zu vertrauen und zurück in die Eigenverantwortung zu kommen.
Die Abhängigkeit von Ärzten und die Deutungshoheit, welche diese über Dich und Dein Leben erlangen, kann abgebaut werden.
Es ist ein guter Einstieg um einen risikominimierten Entzug zu ermöglichen, auch wenn leider Entzugssymptome nicht immer vermieden werden können.

Nahrungsergänzungsmittel sind meiner Erfahrung nach Geldverschwendung im Rahmen des Entzugs.
Sicherlich hilft dir eine Lasea oder Baldrian etwas runterzukommen.
CBD ist auch gut bei Schmerzen.
Doch der eigentliche Schlüssel bist Du und die in Dir liegende Kraft. Der effektivste Helfer bist DU und Dein Körper, Zeit und der Glaube an einen positiven Ausgang.

Ich hätte am Anfang und während meiner schweren Stunden in diesen 5 Jahren nie geglaubt das ich sowas mal schreiben werde.

Ich bin gesund!



Was für mich hilfreich war:

Abkehr von der Schulmedizin in Punkto Psyche und Nervensystem (Anfangs noch Hoffnung das mich jemand versteht, später dann nur noch Pillen darüber verschreiben lassen um tapern zu können)

ADFD und PSYAB (Anfangs enorm wichtig, im späteren Prozess dann Rückzug davon um thematisch vom Entzugsnarrativ wegzukommen und nicht von den wirklich bedrückenden Geschichten so eingenommen zu werden)

Pain Processing Therapy (der finale Gamechanger am Ende der Genesung)

Baylissa Fredericks Buch „Recovery and Renewal“ (mein Reminder und Bestätigungbuch bei auftauchenden Symptomen „Okay, es ist ein Enzugssymtom was ich spüre, es ist nicht so angenehm wie erhofft, aber es wird vorbei gehen!“ und dann Hinwendung der Aufmerksamkeit zu etwas Angenehmen.

Natur und Gartenarbeit – sehr erdend und entspannend, besonders im Akutentzug

Spaziergänge – Anspannung abbauen, besonders im Akutentzug

Schaukeln und Weinen – vor allem im Akutentzug

Hypnosetherapie – Bearbeitung der Grundproblematik

Erarbeiten eines heilungsfördernden Mindsets – innere Arbeit

Druck rausnehmen, Akzeptanz das es dauert so lange es dauert

Gesunde Ernährung – schadet nie

Nicht hilfreich:

Schulmedizin – viele Ärzte arbeiten nicht auf Augenhöhe mit ihren Patienten und schädigen mit Unwissenheit, radikalen Absetzstrategien und Polypharmazie den Patienten

Nahrungsergänzungsmittel – kostet viel Geld, hat aber nichts wirklich Merkbares gebracht.

Klassische Psychotherapie – kaum einer hat verstanden wie es sich anfühlt. Psychologen haben sich bemüht, aber eher immer die Depression oder Angst gesehen, also sich in Ihren Diagnosekategorien bewegt und versucht darauf basierend zu therapieren.
Psychopharmaka stellt für viele ein Tool dar, welches nicht kritisch hinterfragt wird.

Ich wünsche jedem hier im Forum, dass er irgendwann wieder auf dem Damm ist und diese Thematik hinter sich lassen kann.

Ich glaube das jeder, egal wie schwer der Fall gelagert sein mag, genesen kann.

Alles Liebe
Karel
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