Nachfolgend der Genesungsbericht von Straycat, den wir mit ihrer freundlichen Genehmigung einstellen.
Wie ich zu Psychopharmaka kam
Ich leide seit ich 15 Jahre alt bin unter mittelgradigen depressiven Episoden. Erstmalig ist das kurz nach Beginn der Einnahme der ersten Antibabypille aufgetreten. Ich vermute daher einen Zusammenhang.
Seit ich 15 bin, war ich auch - mit Unterbrechungen - in Psychotherapie.
Meine Depressionen wurden wohl der Kategorie "endogen" zugeordnet (auch wenn diese Unterscheidung mittlerweile glaube ich nicht mehr vorgenommen wird). Durch die vielen Jahre Therapie konnte letztlich ausgeschlossen werden, dass meine depressiven Episoden durch negative Erlebnisse, Traumata oder ähnliches ausgelöst wurden. Sie schienen immer schon in gewisser Weise "körperlich" zu sein.
Daher brauchte es auch gerade mal einen Termin von ca. 10 Minuten bei einer Psychiaterin, als ich 19 Jahre alt war, und ich bekam das SSRI Escitalopram verschrieben. Zunächst eine Woche 5 mg, dann 10 mg.
Escitalopram und kurzzeitige andere Psychopharmakaeinnahmen
Anfangs nach der ersten Einnahme ging es mir glaube ich ca. 1 Jahr lang sehr gut und ich hatte keine depressiven Episoden.
Ich nahm dann das Escitalopram allerdings insgesamt 11 Jahre ein, bevor ich einen ersten Absetzversuch wagte. Die Dosis war lange 10 mg und wurde dann auch auf 15 mg und auch 20 mg gesteigert.
Immer wieder berichtete ich meiner Psychiaterin, dass meine depressiven Episoden nach wir vor kamen und gingen. Außerdem wurden die Nebenwirkungen Jahr für Jahr stärker. Am heftigsten war bei mir meine starke Müdigkeit. Ich schlief regelmäßig das halbe Wochenende durch, viele Nächte 12-16 Stunden Schlaf und danach fühlte ich mich immer noch müde.
In den 11 Jahren Escitalopram setzte ich zweimal die Antibabypille ab. Kleiner Exkurs: Ich habe 7 verschieden Antibabypillen genommen und keine wirklich vertragen, hatte oft Zwischenblutungen und andere Nebenwirkungen.
Das Absetzen der Antibabypille löste bei mir beide Mal eine leicht hypomanische Phase aus. Ich hatte viel Energie, fühlte mich gut, ging viel fort, trank und rauchte mehr. Es fühlte sich ein wenig wie eine zweite Teenager-Zeit an. Nach ca. 5-6 Monaten legte sich diese Hoch-Phase wieder und pendelte sich wieder auf einem normalen Niveau ein.
diese "Hoch-Phasen" wurden allerdings von meiner Psychiaterin als leicht manische Phasen interpretiert, weshalb sie mir die Diagnose Bipolar II verpasste und etwas "gegen diese Manien" verschrieb: Lamotrigin (nahm ich einige Wochen, mir war davon allerdings ständig übel) und dann Aripiprazol (nahm ich auch nur einige Wochen, bekam davon motorische Störungen, wie Zuckungen und Sehstörungen).
Als ich das Escitalopram ca. 11 Jahre genommen hatte, waren die Nebenwirkungen hinsichtlich des Schlafs so enorm, dass meine Psychiaterin beschloss, mich auf Bupropion "umzustellen". Ich sollte das Escitalopram innerhalb 3 Wochen "ausschleichen" (ich glaube die Dosis war damals 20 oder 15 mg) , und gleichzeitig 150 mg Bupropion "einschleichen". Ich ließ mir dafür 5 Wochen Zeit und dachte damals noch, dann wäre ich auf der sicheren Seite, weil das "langsamer" war, als die Ärztin empfahl.
Akutentzug nach dem Absetzen von Escitalopram
Nachdem diese 5 Wochen "Ausschleichen" vorbei waren begannen heftige Symptome. Ich nahm damals auch noch das Bupropion, weshalb ich zunächst an Nebenwirkungen dachte. Um keine Symptome zu entwickeln, nur weil ich davon gelesen habe, bat ich meinen Freund den Beipackzettel von Bupropion zu lesen und zu checken, ob meine Symptome davon kommen könnten.
Symptome waren: Verkrampfungen der Muskulatur und starke Schmerzen, Schwindel, extreme Schreckhaftigkeit, Brain Zaps, Durchfall und Verstopfung im Wechsel, starke Mundtrockenheit, Schlaflosigkeit, Angstzustände und Panikattacken, unkontrolliertes Zittern, motorische Probleme, Erschöpfung (und vermutlich noch einige mehr, die mir nicht mehr einfallen)
Mein Freund recherchierte dann zu den Nebenwirkungen von Bupropion und kam mit einem für mich sehr überraschenden Ergebnis zurück: Er hatte nicht wirklich passende Nebenwirkungen bei Bupropion gefunden, aber einen Artikel zu einem sogenannten "SSRI-Entzugs-Syndrom", der 1:1 zu meinen Symptomen passte.
So erfuhr ich zum allerersten Mal etwas über Absetzsymptome und was es damit auf sich hatte. Meine Psychiaterin hatte das mit keinem Wort erwähnt.
Ich recherchierte viel zu diesem Thema und fand das Forum ADFD, wo ich endlich auch andere Menschen traf, die ähnliches erlebten.
Protrahierter Entzug von Escitalopram
Ich setzte dann auch das Bupropion relativ zügig ab, weil man diesen Wirkstoff leider nicht ausschleichen kann (es gibt ihn nur in 2 Dosierungen in retardierter Tablettenform). Das änderte an der Symptomatik nicht wirklich etwas, wenn ich mich richtig erinnere. Aber ich glaube ich habe Bupropion vielleicht 4-8 Wochen insgesamt genommen.
Sehr heftig und hartnäckig hielt sich das Symptom der Muskelverspannungen und heftigen Schmerzen.
Während die meisten anderen Symptome innerhalb von 2 Monaten besser wurden, hielten die Schmerzen an.
Damals wusste ich auch noch nicht, dass diese Muskelverspannungen und Schmerzen besonders häufig als Entzugssymptom auftreten und dachte, ich hätte mir einen Nerv eingeklemmt.
Es folgten unzählige Behandlungen mit Muskelrelaxantien, Schmerzmitteln (alle Wirkstoffe der NSAR-Gruppe, die alle nicht halfen), Physiotherapie, Osteotherapie, Heilmassagen, Akupunktur, Heilgymnastik - ich habe wirklich enorm viel Zeit und Geld investiert, war bei 4 verschiedenen Orthopäden und unzähligen Therapeuten. Jede Behandlung mache es eigentlich nur schlimmer.
Letztlich geholfen haben leider nur Infusionen mit Opioiden. Ich wusste allerdings um die große Abhängigkeitsgefahr, weshalb ich das nicht lange machen wollte. Danach nahm ich monatelang (und auch in den Folgejahren mit gewisser Regelmäßigkeit) Novalgin in Höchstdosis - es war das einzige Schmerzmittel, das die Schmerzen zwar nicht völlig ausschaltete, aber zumindest linderte.
Rückblickend gesehen war es wohl ein protrahiertes Entzugssyndrom aufgrund des zu schnellen Absetzens des Escitaloprams. Denn nach 2 Monaten nahmen viele der akuten Symptome (bis auf die Schmerzen) wieder ab, nur um dann 6 Monate nach dem Absetzen in voller Härte zurückzukommen. Plötzlich hatte ich wieder unkontrollierbare Zitteranfälle, Akathisie, Panik.
Venlafaxin Einnahme
Ich bekam dann - unter der Annahme es wäre ein "Wiederauftreten der Grunderkrankung" (rückblickend wohl eine Fehleinschätzung, denn ich hatte ursprünglich Depressionen und keine Panikattacken oder dergleichen) - 75 mg Venlafaxin und 100 mg Trazodon verschrieben.
Das Trazodon nahm ich nur ein paar Wochen und schlich es dann großschrittig aus, da ich keine weitere Abhängigkeit und vor allem keine Störung meines Schlafrhythmus riskieren wollte.
Venlafaxin nahm ich dann in der Dosis von 75 mg ca. ein Jahr lang ein.
Ungefähr 6 Monate nach Beginn der Einnahme stabilisierte ich mich (ich war damals auch langfristig krankgeschrieben für ein dreiviertel Jahr), es kamen keine Panikattacken und auch keine depressiven Schübe mehr. Rückblickend kann ich nicht sicher sagen, ob mich das Venlafaxin vielleicht etwas "betäubt" hat und das die Besserung bewirkt hat oder ob der protrahierte Entzug des Escitaloprams da langsam nachzulassen begann.
Nachdem ich das Venlafaxin dann 1 Jahr genommen hatte, beschloss ich, dass ich es nun ausschleichen will.
Venlafaxin Ausschleichen
Ich war damals bereits im ADFD aktiv und hatte mich viel zum langsamen kleinschrittigen Absetzen informiert. Deshalb setzte ich Venlafaxin von Anfang an mit der 10%-Methode unter Anwendung des Kügelchen-Zählens ab.
Von 75 mg auf 37,5 mg spürte ich keine starken Symptome und es verlief relativ stabil.
Ab ungefähr 37,5 mg traten dann immer wieder mal Unruhezustände und Akathisie auf. Nicht so heftig wie nach dem Escitalopram-Entzug, aber doch spürbar.
Es folgten im weiteren Absetzverlauf immer wieder Phasen mit Entzugssymptomen, die mal stärker und mal schwächer waren.
Manche Symptome, wie die Schmerzen, die ich nie ganz los wurde, gehörten dann auch zum Entzugs-Normalzustand bei mir. Sie waren ständig vorhanden und allenfalls manchmal weniger intensiv.
Ich reagierte auch oft sehr sensibel auf Alkohol, Koffein, später auch generell auf Essen (da ging es mir jedes Mal nach dem Essen furchtbar) - sehr schnell kam ein unkontrolliertes Zittern, Schwindel, Angst.
Einige Monate (ich glaube das war im Sommer 2020 und bei einer Dosis von rund 15 mg) hatte ich große Probleme mit Schlaflosigkeit und kam in vielen Nächten auf ca. 30 Min Schlaf. Es pendelte sich nach einigen Wochen zum Glück selbst langsam wieder ein ohne, dass ich irgendetwas einnehmen musste.
2022 gab es dann noch einmal einen sehr großen Rückschlag: Ich hatte im Frühling eine extremst stressige Phase im Job (12-Stunden-Tage zT kaum Zeit etwas zu Essen zwischendurch und wirklich sehr viel Druck). Als es dann etwas entspannter wurde im Job (Juni) fuhren wir auf Urlaub und ich fiel aus unbekannten Gründen in Ohnmacht. Das erschreckte mich so sehr, dass ich große Ängste entwickelte (vor allem wenn ich irgendwo alleine war oder beim Autofahren). Ärztlich wurde es als Generalisierte Angststörung, Panikstörung und Soziophobie in Folge einer Überlastungsreaktion diagnostiziert. Zum Glück hatte ich eine verständnisvolle Ärztin, die mir keine neuen Medikamente verschrieb, sondern einfach die Zeit gab um mit Hilfe von Therapie wieder Stabilität zu erlangen.
Ich war abermals viele Monate krankgeschrieben und die Angst lähmte mich zunehmend. Am schlimmsten war es, als mein Freund 1 Woche auf Urlaub war und ich allein zuhause war. Damals traute ich mich nicht mal wirklich aus dem Schlafzimmer. Ich telefonierte täglich mit meiner Therapeutin, die mich durch diese schwere Phase begleitete.
Danach wurde es im Herbst 2022 endlich etwas besser, doch dann bekam ich Covid19 (trotz dreimaliger Impfung). Das hatte bei mir sehr starke psychische Auswirkungen: ich hatte die bis zu diesem Zeitpunkt heftigste Depression und massive Angstzustände inklusive Suizidgedanken und Selbstverletzungsimpulsen. Gleichzeitig hatte ich wahnsinnige Angst, den Verstand zu verlieren. Mit einem kompletten Geruchsverlust kam auch eine heftige tagelange Übelkeit, weshalb ich praktisch nichts essen konnte.
Nach Covid ging es mir dann psychisch tatsächlich sehr viel besser und während der Infektion waren auch meine Schmerzen erstmals seit 2016 (!) für einige Tage verschwunden. Dann bekam ich noch die Influenza, die mich wieder für einige Wochen außer Gefecht setzte. Aber diese hatte nur körperliche Symptome, die mir bei weitem lieber waren, als die heftigen psychischen Auswirkungen bei Covid.
Kleiner Einschub: mittlerweile hatte ich Covid zum zweiten Mal und es hatte null psychische Auswirkungen, obwohl ich mich sehr vor einer neuerlichen Infektion gefürchtet hatte.
Im Sommer 2023 war ich dann endlich beim letzten Venlafaxin-Kügelchen angekommen und schlussendlich auf 0 mg angekommen.
Seit einem Jahr bin ich nun komplett frei von Psychopharmaka und es geht mir sehr gut
Die Zeit nach Null
Es wurde bei mir stetig besser. Manchmal gab es auch kleinere Rückschritte aber insgesamt wird es zunehmend besser. Es war nicht plötzlich von einem Tag auf den anderen besser, sondern das geschah irgendwie in Minischrittchen im Hintergrund, so dass ich es oft erst rückblickend bemerkte, wie viel besser alles schon geworden war.
Ich habe nach einer sehr schwierigen Zeit von mehreren Jahren Entzug mit teilweise heftigen Symptomen und starken Einschränkungen nun endlich wieder ein Leben Langsam traue ich mir auch wieder Veranstaltungen wie Konzerte zu, gehe auch mal wieder tanzen, trinke auch gelegentlich wieder Alkohol, und muss nicht mehr penibel darauf achten mein Nervensystem nur ja nicht zu überlasten, da es mir das sofort "heimzahlt".
Ich gönne mir nach wir vor Auszeiten, wenn ich merke, dass mich etwas überlastet (da habe ich aus der Entzugszeit einfach auch gelernt, besser auf mich zu achten) - aber insgesamt fühle ich mich sehr viel stabiler.
Ungefähr 2 Monate bin ich nun weitestgehend schmerzfrei, was ich seit 2016 nicht mehr war. Fast 8 Jahre haben mich diese unfassbaren Schmerzen begleitet.
Heute nehme ich keinerlei Schmerzmittel mehr und ich kann nun auch wieder leichte Aufbauübungen für meine Muskulatur machen, Sport ausüben (wenn auch noch nicht ganz so wie früher). Da hoffe ich, dass das auch noch zunehmend besser wird und ich lieb gewonnene Tätigkeiten wieder aufnehmen kann, die ich im Entzug leider nicht mehr ausüben konnte (wie z.B. Yoga).
Depressive Episoden kommen nach wie vor, aber sie sind nicht wirklich anders als während der Antidepressiva-Einnahme und während des Entzugs. Ich kenne sie nun seit mehr als 20 Jahren und komme mit ihnen zurecht.
Insgesamt spüre ich Emotionen wieder intensiver. Ich würde sogar sagen, dass etwas mehr mein "altes Ich" oder mein "wahres Ich" durchkommt. Viele Jahre haben mich die Antidepressiva "betäubt" - nicht so, wie das Benzodiazepine machen würden, aber die Emotionen erschienen einfach flacher. Seit ich keine Antidepressiva mehr nehme, ist das alles wieder intensiver. Mit negativen Emotionen, wie Wut und Taurigkeit muss ich erst wieder lernen, angemessener damit umzugehen, aber auch dieser Lernprozess kommt gut voran. Positive Gefühle empfinde ich allerdings auch wieder intensiver und das ist sehr schön.
Alles erscheint wieder intensiver - dadurch manchmal auch anstrengender, aber es lohnt sich
Erfahrungen und Fazit
Die wichtigsten "lessons learned" für mich:
- Rückblickend würde ich keine Antidepressiva einnehmen (vor allem nicht mit 19 Jahren!), sondern weiter mit Psychotherapie daran arbeiten, mit den depressiven Episoden umgehen zu lernen (denn das musste ich sowieso lernen).
- Ich würde kritischer nachfragen, wenn mir solche Medikamente verschrieben werden, da man leider nicht umfassend aufgeklärt wird (weder über Nebenwirkungen, noch über Absetzprobleme).
- Wenn ich Antidepressiva absetze, würde ich nicht auf den Zeitplan meiner Ärztin hören, sondern mir viele Monate bis Jahre Zeit dafür nehmen, statt nur Wochen.
- Ich würde lieber langsam mit dem Reduzieren von kleinsten Dosen starten und sehen, wie mir das bekommt. Man kann wirklich nur ganz behutsam das Gefühl für den eigenen Entzug finden und auf Basis der eigenen Erfahrungen herausfinden, wie schnell man vorgehen kann.
- Es war wichtig, dass ich mir immer ausreichend Zeit mit einer neuen Dosis gelassen habe, bevor ich erneut reduziert habe. Für mich waren diese Phasen, in denen ich die Dosis beibehalten habe (dass diese Phasen ausreichend lange, also mindestens 4 Wochen waren) immer wichtiger, als dass die Reduktion nur 10% betrug. Ich kam mit größeren Reduktionsschritten besser zurecht, als mit zu kurzen Absetzpausen.
Man muss seinen eigenen Weg finden. Man muss ausprobieren, womit man zurecht kommt und womit nicht. Es gibt kein festgelegtes Schema, das für jeden passt.
Rückblickend hätte ich die ersten 50% (von 75 mg zu 37,5 mg) vielleicht größere Reduktionsschritte vornehmen können und mir so etwas Zeit sparen können (jetzt wird es bei mir nämlich zeitlich etwas knapp mit meinem Kinderwunsch, wegen dem ich unter anderem ursprünglich absetzen wollte).
Aber letztlich halte ich es für die richtige Entscheidung, dass ich das Venlafaxin bedeutend langsamer ausgeschlichen habe, als ich das in meiner Unwissenheit mit dem Escitalopram getan habe.
Der Entzug war lange (alleine das Venlafaxin habe ich 6 Jahre ausgeschlichen!), aber nun nach Null ging es sukzessive bergauf. Deshalb war es wohl die richtige Entscheidung.
An alle, die noch tief im Entzug stecken: Ja, es gibt ein Leben danach! Und es ist schön Verliert nie die Hoffnung!
Erfahrungsbericht Straycat: Kaltentzug Escitalopram / Venlafaxin ausgeschlichen
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