Studie "Kein Nutzen von Antidepressiva bei der stationären Behandlung von Depressionen" (Maß et al.)

(Fach-)Artikel, Studien und weitere wissenschaftliche Texte, Aufklärungsvideos etc. zum Absetzen von Antidepressiva, Benzodiazepinen und Neuroleptika (Antipsychotika)
[für alle Benutzer und Gäste sichtbar]
Antworten
Team PsyAb
Team
Beiträge: 700
Registriert: vor 3 Jahre

Studie "Kein Nutzen von Antidepressiva bei der stationären Behandlung von Depressionen" (Maß et al.)

Link zum Original

Reinhard Maß, Kerstin Backhaus, Katharina Lohrer, Michael Szelies und Bodo K. Unkelbach untersuchten in ihrer Studie den Nutzen von Antidepressiva (AD), die zusätzlich zu kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) bei der stationären Behandlung von depressiven Patienten verabreicht wurden.

Wesentliche Punkte der Studie:
  • Die stationäre kognitive Verhaltenstherapie (KVT) zeigte sich bei Depressionen als wirksam.
  • Die Behandlung mit KVT plus Antidepressiva ergab eine ähnliche Verbesserung der Depressionswerte als die Behandlung mit KVT allein.
  • Die Wirksamkeit der KVT wird durch den zusätzlichen Einsatz von Antidepressiva nicht verbessert.
  • Die Verfasser der Studie regen an, die derzeitige Verschreibungspraxis von Antidepressiva zu hinterfragen.
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Auszugweise deutsche Übersetzung:


Kein Nutzen von Antidepressiva bei der stationären Behandlung von Depressionen. Eine längsschnittliche, quasi-experimentelle Feldstudie

Reinhard Maß, Kerstin Backhaus, Katharina Lohrer, Michael Szelies und Bodo K. Unkelbach



Zusammenfassung

Begründung

Antidepressiva (AD) werden meist als unverzichtbar für die Behandlung schwerer Depressionen angesehen. Die überwiegende Mehrheit der stationären Depressionspatienten wird mit AD behandelt. Es gibt jedoch immer mehr Studien, die darauf hindeuten, dass die Wirksamkeit von AD aufgrund methodischer Probleme bei den Wirksamkeitsstudien (z.B. Publikationsfehler, unbeabsichtigte Entblindung, Verwechslung von Entzugssymptomen und Rückfällen) stark überschätzt wird.

Ziele

Der Nutzen des zusätzlichen Einsatzes von AD bei der stationären Behandlung von Depressionen mit intensiver kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) wurde in einem naturalistischen Design untersucht.

Methoden

Die Depressivität wurde mithilfe des "Beck Depression Inventory (BDI-II)" während eines Vorgesprächs (T0), bei der Aufnahme (T1), bei der Entlassung (T2) und bei einer 6-monatigen Nachuntersuchung (T3) erfasst. Es wurden zwei Studienphasen miteinander verglichen: In Phase A wurden die AD gemäß der deutschen Leitlinie empfohlen. In Phase B wurden AD nicht mehr empfohlen, sondern nur noch auf ausdrücklichen Wunsch der Patienten verschrieben. In Phase A (N = 574) nahmen 60,3 % aller Patienten bei der Entlassung AD ein. In Phase B (N = 424) nahmen 27,9 % der Patienten bei der Entlassung AD ein. Abgesehen von der unterschiedlichen Einnahmehäufigkeit von AD waren die beiden Behandlungsbedingungen ähnlich, und die Stichproben unterschieden sich nicht signifikant in Bezug auf Alter, Geschlecht, Diagnosen, Suizidversuche in der Vergangenheit, komorbide Angststörungen und Arbeitslosigkeit.

Ergebnisse

In beiden Studienphasen waren die BDI-II-Werte bei T2 bzw. T3 im Vergleich zu T1 stark rückläufig. Die BDI-II-Werte der beiden Phasen unterschieden sich zu keinem der Messzeitpunkte. Die Veränderungen der Depression waren in beiden Phasen ähnlich. In sequenziellen multiplen Regressionsanalysen mit der Gesamtstichprobe gab es keine signifikanten Prädiktoren für die Verringerung der Depression bei AD, weder bei T2 noch bei T3.

Schlussfolgerungen

Die stationäre KVT war bei Depressionen wirksam. Die Wirksamkeit der KVT wurde durch den zusätzlichen Einsatz von AD nicht verbessert. Die derzeitige Verschreibungspraxis von AD sollte hinterfragt werden.


Diskussion

Der Verzicht auf AD im Rahmen des stationären Behandlungskonzepts hat keine Nachteile gezeigt. Es gibt keine Hinweise auf einen zusätzlichen Nutzen der AD. Die zentrale Hypothese dieser Studie ist somit zu verwerfen. Die BDI-II-Scores sanken in beiden Phasen bis zur Entlassung stark ab und waren trotz eines leichten Anstiegs bei der Nachuntersuchung immer noch deutlich niedriger als bei der Aufnahme. Zudem sind die zuvor (Maß et al. 2019) beschriebenen Behandlungseffekte weitgehend repliziert.

Es zeigt sich eine gewisse Überlegenheit der Behandlung in Phase B: (1) die Behandlungen in Phase B waren 4½ Tage kürzer; (2) in Phase A war der Anteil der Abbrüche größer als in Phase B; (2) Phase B zeigt etwas höhere Effektgrößen für die Abnahme der Depression bei T2 und T3.

In der Regel werden Patienten, die zu einer intensiven Psychotherapie bereit sind, auf der Station "Aaron T. Beck" aufgenommen. Dies war bei der Mehrheit aller in Frage kommenden Patienten der Fall. Die Präferenz für eine Psychotherapie ist keine Besonderheit unserer Stichprobe, vielmehr wird eine Psychotherapie bei Depressionen auch in der Allgemeinbevölkerung bevorzugt (Angermeyer et al. 2017). Daher scheint der Ansatz ohne AD in Phase B eher den Wünschen der Patienten zu entsprechen, was es ihnen leichter machte, sich auf die Behandlung einzulassen und an T2 und T3 teilzunehmen.

Die hier vorgestellten Ergebnisse scheinen im Widerspruch zu früheren Studien zu stehen, die eine Wirksamkeit von AD nahelegen, z.B. die oben erwähnte Meta-Analyse von Cipriani et al. (2018), die auf 522 randomisierten kontrollierten Studien (RCTs) basiert und Aufmerksamkeit erregte. Alle 21 in dieser Studie berücksichtigten AD waren wirksamer als Placebo. Allerdings wurde diese Meta-Analyse wegen mehrerer methodischer Mängel kritisiert (Hengartner & Plöderl 2018; McCormack & Korownyk 2018). Kürzlich zeigte eine von Stone et al. (2022) berichtete Analyse der Daten einzelner Teilnehmer von 232 RCTs, dass nur 15 % der Patienten einen pharmakologischen Nutzen von AD zu haben scheinen. Generell wurde auf erhebliche methodische Probleme in AD-Wirksamkeitsstudien hingewiesen (Hengartner 2017; Kirsch 2019; Munkholm et al. 2019). Ein Hauptproblem ist die Unterbrechung der Doppelblind-Bedingung in RCTs (Margraf et al. 1991; Moncrieff et al. 2004; Baethge et al. 2013), was die Validität dieser Studien ernsthaft in Frage stellt. Stone et al. (2022, S. 8) weisen darauf hin, dass der Anteil von 15 % der Patienten, die einen pharmakologischen Nutzen zu haben scheinen, auch durch die Auswirkungen der funktionellen Entblindung erklärt werden könnte.

Es stellt sich die Frage, warum wir in unserer Studie keinen Placebo-Effekt der AD beobachtet haben. Es gibt zwei sich ergänzende Hypothesen, um dies zu erklären: (1) Ein großer Teil der Patienten in unserer Stichprobe hatte die Erfahrung gemacht, trotz der Einnahme von AD depressiv zu werden oder zu bleiben; (2) Das oben beschriebene psychosoziale Modell der Depression, das zu Beginn der Behandlung entwickelt wurde, hilft den Patienten, ihre Krankheit im Kontext ihrer aktuellen Lebenssituation und persönlichen Geschichte zu verstehen. Die Stärke des Placebo-Effekts wird stark von den situativen Bedingungen beeinflusst, wobei die Erwartungen der Patienten eine wesentliche Komponente darstellten (Enck et al. 2013). Da die oben genannten Faktoren wenig Raum für die Erwartung von Hilfe durch AD lassen, könnte dies einen Placebo-Effekt verhindert haben. Außerdem besteht unsere Stichprobe aus stationären Patienten, die in erster Linie psychotherapeutische Hilfe suchen, was zu anderen Erwartungen führen kann als bei ambulanten Patienten, die eine psychopharmakologische Behandlung suchen und an RCTs teilnehmen.

Unsere Ergebnisse stehen im Einklang mit Blom et al. (2007). Sie verglichen vier Gruppen von depressiven Patienten, die entweder mit einem AD (Nefazodon), einer interpersonellen Psychotherapie (IPT), einer Kombination aus IPT und AD oder einer Kombination aus IPT und einem Placebo behandelt wurden. Es wurde kein Unterschied im Ergebnis zwischen IPT mit und ohne AD festgestellt; gleichzeitig war die Kombination von IPT und AD mit einem stärkeren Behandlungseffekt verbunden als AD allein. Es wurde der Schluss gezogen, dass eine Kombination aus Psychotherapie und Pharmakotherapie einer Monotherapie nur dann überlegen ist, wenn die Pharmakotherapie durch eine Psychotherapie ergänzt wird, nicht aber umgekehrt. Diese Ergebnisse wurden kürzlich von Cuijpers et al. (2023) bestätigt, die feststellten, dass die Kombination von AD und KVT sowohl kurz- als auch langfristig wirksamer ist als AD allein, aber nicht besser als KVT allein. Die Hinzufügung von AD zur KVT bringt also keine Behandlungsvorteile, sondern erhöht nur die Belastung durch Nebenwirkungen.

Leider gibt es nur sehr wenige RCTs mit stationären Patienten. Die Ergebnisse stationärer Behandlungen sind aufgrund der komplexen und starken Auswirkungen der Behandlungsprogramme, die stationäre Patienten erhalten, schwer mit RCTs und Metaanalysen mit ambulanten Patienten zu vergleichen (z.B. Cipriani et al. 2018; Stone et al. 2022). Der fehlende Unterschied zwischen stationären Behandlungen mit und ohne AD kann durch einen Deckeneffekt (ceiling effect) erklärt werden. Allerdings waren alle von Blom et al. (2007) untersuchten Patienten und fast alle Patienten in der Meta-Analyse von Cuijpers et al. (2023) ambulante Patienten, was einen Deckeneffekt in diesen Studien unwahrscheinlich macht. Dennoch sind die dort gezeigten Ergebnisse mit denen unserer Studie vergleichbar. Dies deutet darauf hin, dass ein Deckeneffekt bei unseren Ergebnissen keine wesentliche Rolle spielt.

Wir haben keine Rückfälle oder Rebounds im Zusammenhang mit dem Absetzen von AD beobachtet (mit Ausnahme eines Patienten, bei dem sich während des Absetzens erstmals ein hypomanisches Syndrom manifestierte, das vor der Entlassung ohne Intervention zurückging). Obwohl diese Beobachtung im Widerspruch zu früheren Arbeiten zu stehen scheint (z.B. Kato et al. 2021), wird in jüngster Zeit über eine mögliche Verwechslung von Absetzsymptomen mit depressiven Symptomen diskutiert (Récalt & Cohen 2019; Hengartner 2020).

Kritik an der deutschen Leitlinie

Die aktuelle deutsche Leitlinie zur Depression (Bundesärztekammer et al. 2022) ist stark auf den Einsatz von AD ausgerichtet. Laut der Leitlinie werden AD und Psychotherapie bei mittelschweren Depressionen als gleichwertige Behandlungsformen angesehen, und Patienten mit schweren, chronischen oder wiederkehrenden Depressionen sollten mit einer Kombination aus AD und Psychotherapie behandelt werden. Dies liegt daran, dass eine Kombinationstherapie als wirksamer angesehen wird als eine alleinige Pharmakotherapie oder Psychotherapie. Unsere Ergebnisse zeigen, dass ein Abweichen von dieser Empfehlung nicht zu schlechteren Behandlungsergebnissen führt. Ähnliches wurde in der oben erwähnten multizentrischen Studie (Zeeck et al. 2015, 2016) gezeigt; bis zu 12 Monate nach der Entlassung führte eine leitlinienkonforme poststationäre Behandlung zu den gleichen Ergebnissen wie eine nicht leitlinienkonforme Behandlung (Weiß et al. 2020). Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Leitlinienempfehlungen nicht als starre Regeln angesehen werden sollten. Doch auch wenn die Empfehlungen nicht rechtsverbindlich sind, haben sie doch einen erheblichen Einfluss. Mendel et al. (2010) zeigten, dass Psychiater ihren Patienten bei Depressionen viel häufiger AD verschreiben, als sie sie selbst einnehmen würden. Ein Grund dafür ist die Sorge, bei Komplikationen (z.B. Suizidversuch) gerichtlich belangt werden zu können, wenn die Behandlung von der Leitlinie abweicht. Umso wichtiger ist es, dass die Leitlinienempfehlungen den aktuellen Stand der Forschung berücksichtigen. Psychotherapie, insbesondere KVT, scheint eine ausreichende Behandlung von Depressionen zu sein und wird durch den Einsatz von AD nicht verbessert (Blom et al. 2007; Maß et al. 2019; Cuijpers et al. 2023). Die Behandlungsleitlinien sollten daher entsprechend aktualisiert werden. Dies könnte allerdings durch die Tatsache erschwert werden, dass viele Autoren der Leitlinie finanzielle Beziehungen zur pharmazeutischen Industrie unterhalten. Dieser Umstand führt zu einer Vermischung von wissenschaftlicher und kommerzieller Perspektive und wurde wiederholt heftig kritisiert (z.B. Fava 2016; Hengartner 2017; Shorter 2021).

Beschränkungen

Die Pharmakotherapie bei der Nachuntersuchung (T3) ist weitgehend unbekannt. Nur eine Teilstichprobe der DEP-Gruppe in Phase B (N = 36) wurde zu AD bei T3 befragt [Ergänzung: Für die Analysen wurden die Patienten entsprechend ihrer Diagnosen in drei Gruppen eingeteilt. Die DEP-Gruppe umfasste alle Fälle mit der Diagnose einer schweren depressiven Störung]. Von diesen Patienten waren 28 ohne AD entlassen worden und nahmen zu T3 keine AD ein. Fünf waren ohne AD aufgenommen worden, nahmen aber bei T3 AD ein. Die drei übrigen Patienten nahmen sowohl bei der Entlassung als auch bei T3 AD ein. Insgesamt acht Patienten, die bei T3 AD einnahmen, hatten einen mittleren BDI-II-Wert von 24,3 Punkten (SD = 13,5), während die 28 Patienten ohne AD einen mittleren Wert von 15,6 Punkten (SD = 14,1) aufwiesen. Dies deutet darauf hin, dass die meisten Patienten, die ohne AD entlassen wurden, in den sechs Monaten nach der Entlassung weiterhin keine AD einnahmen; diejenigen, die bei T3 AD einnahmen, schienen davon nicht zu profitieren. Angesichts der geringen Fallzahl ist nicht sicher, wie verallgemeinerbar diese Daten sind.

Bei dieser Arbeit handelt es sich formal nicht um ein Feldexperiment, da die Änderung des Behandlungskonzepts in Phase B eine therapeutische Entscheidung und nicht Teil eines experimentellen Designs war. Tatsächlich entsprechen die beiden Behandlungskonzepte jedoch zwei Phasen eines Experiments, in dem der Einsatz von AD die unabhängige Variable und der BDI-II die abhängige Variable ist.

Neben den Vorteilen einer hohen ökologischen und externen Validität haben naturalistische Studien den Nachteil einer geringeren internen Validität. Die Stichprobengrößen sind unterschiedlich und die Vergleichsgruppen wurden nicht nach dem Zufallsprinzip gebildet. Rekrutierung, Behandlungsdauer, Pharmakotherapie usw. folgten nicht einem experimentellen Design. Bei der primären Ergebnismessung (BDI-II) handelte es sich um ein Selbsteinschätzungsinstrument. Seine Validität hängt von der Fähigkeit zur Introspektion ab; in einigen (seltenen) Fällen war die Introspektion beeinträchtigt (möglicherweise als Folge einer Depression), sodass der BDI-II-Score das wahre Ausmaß der Depressivität unterschätzte. Leider wurden in dieser Studie weitere Informationen zur Depression (Dauer der Index-Episode, Alter bei Krankheitsbeginn, Anzahl früherer Episoden) nicht systematisch erfasst.

Die vorliegenden Ergebnisse bestätigen unsere früheren Erkenntnisse, dass die stationäre Behandlung von Depressionen durch AD nicht begünstigt wird. Allerdings wurden die Daten auf einer einzigen Station erhoben, auf der eine intensive Psychotherapie durchgeführt wird. Zwar gibt es derzeit keine Hinweise darauf, dass sich unsere Patienten von denen anderer Kliniken in ländlichen Gebieten unterscheiden, doch wäre es von Vorteil, diese Untersuchung in anderen Kliniken zu wiederholen, um die Verallgemeinerbarkeit unserer Ergebnisse festzustellen.

Quellen:
Studie: Maß, R., Backhaus, K., Lohrer, K. et al. No benefit of antidepressants in inpatient treatment of depression. A longitudinal, quasi-experimental field study. Psychopharmacology (2023). https://doi.org/10.1007/s00213-023-06417-4

Interview mit Prof. Dr. Reinhard Maß zur Studie: Behandlungserfolge ohne Antidepressiva, auf Depression- Heute
Antworten