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Artikel "Die Serotonin-Theorie der Depression: Ein systematischer Überblick über die Erkenntnisse" (Moncrieff et al.)

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Artikel "Die Serotonin-Theorie der Depression: Ein systematischer Überblick über die Erkenntnisse" (Moncrieff et al.)

Originalstudie: The serotonin theory of depression: A systematic umbrella review of the evidence veröffentlicht in Molecular Psychiatry, 20. Juli 2022

Die Serotonin-Hypothese als Ursache von Depressionen ist immer noch einflussreich. Ein Forscherteam des University College London wollte mit dieser systematischen Übersichtsarbeit ("Umbrella-Review") herausfinden, ob es eindeutige Belege dafür gibt, dass Depressionen mit einer verminderten Serotoninkonzentration oder -aktivität verbunden sind. Hierfür wurden die Ergebnisse von 17 vorhandenen relevanten Forschungsarbeiten (Metaanalysen und systematische Übersichten) ausgewertet.

auszugsweise Übersetzung bzw. Zusammenfassung

Zusammenfassung:
"Die Serotoninforschung liefert keine soliden Belege für einen Zusammenhang zwischen Serotonin und Depression und sie stützt die Hypothese, dass Depressionen durch verminderte Serotoninaktivität oder -konzentrationen verursacht werden, nicht.
Allerdings gibt es Hinweise, dass die langfristige Verwendung von Antidepressiva die Serotoninkonzentration reduzieren könnte."


Einführung:
"Die Annahme, dass Depressionen das Ergebnis von Anomalien von Neuroransmittern, insbesondere Serotonin (5-Hydroxytryptamin oder 5-HT), sind, ist seit Jahrzehnten einflussreich und liefert eine wichtige Rechtfertigung für die Anwendung von Antidepressiva. Ein Zusammenhang zwischen erniedrigtem Serotonin und Depressionen wurde erstmals in den 1960er-Jahren suggeriert und ab den 1990er-Jahren mit dem Aufkommen der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer-Antidepressiva (SSRI) weit verbreitet. Obwohl sie neuerdings in Frage gestellt wird, bleibt die Serotonin-Hypothese der Depression einflussreich, da führende englischsprachige Lehrbücher ihr immer noch qualifzierten Support geben, führende Forscher ihr beipflichten und viel empirische Forschung auf ihr beruht. Umfragen legen nahe, dass mindestens 80 % der breiten Öffentlichkeit es mittlerweile als erwiesen ansehen, dass Depressionen durch ein "chemisches Ungleichgewicht" verursacht werden. Viele Allgemeinmediziner schließen sich dieser Ansicht an und populäre Webseiten zitieren diese Theorie im Allgemeinen.

Es wird oft angenommen, die Wirkung von Antidepressiva lege nahe, dass Depressionen zumindest teilweise durch eine chemische Anomalie im Gehirn verursacht sein müssen und dass die scheinbare Wirksamkeit von SSRIs zeige, dass Serotonin daran beteiligt sei. Allerdings werden auch andere Erklärungen für die Wirkung von Antidepressiva vorgebracht, z.B. dass sie aufgrund eines verstärkten Placebo-Effekts wirken oder aber durch ihre Fähigkeit, Emotionen generell einzuschränken oder abzustumpfen".


Methoden- und Ergebnisszusammenfassung:
"Umbrella-Reviews" erheben die Daten existierender systematischer Reviews und Metaanalysen, die für eine bestimmte Forschungsfrage relevant sind; sie werten also eine große Menge existierender Daten aus und vergleichen diese.
Die Autoren identifizierten sechs Forschungsfelder, die glauben, die Serotonin-Hypothese zu stützen, und werteten diese jeweils in getrennten Analysen aus:

1. Serotonin und der Serotonin-Metabolit 5-HIAA
Forschungsfrage: Haben Menschen mit Depressionen einen niedrigeren Spiegel an Serotonin und 5-HIAA in Körperflüssigkeiten?
Ergebnis der Auswertung: Es konnte keine Evidenz für einen solchen Zusammenhang gefunden werden.

2. Rezeptoren
Forschungsfrage: Ist der Spiegel von Serotoninrezeptoren bei Menschen mit Depressionen verändert? Der hauptsächliche Fokus liegt hier auf dem Rezeptor 5-HT1A, der die Serotonin-Freigabe hemmt und der bei Menschen mit Depressionen daher eine erhöhte Aktivität zeigen sollte.
Ergebnis der Auswertung: Die Mehrheit der ausgewerteten Studien deutete nicht auf einen Unterschied der Aktivität des 5-HT1A-Rezeptors bei Menschen mit versus ohne Depressionen hin - oder aber sogar auf eine erniedrigte Konzentration dieses Rezeptors, was ein höheres Level von Serotonin bei Menschen mit Depressionen nahelegen müsste. Die Studien beinhalten allerdings hauptsächlich Patienten, die Antidepressiva oder andere Psychopharmaka nahmen oder bis vor kurzem genommen hatten, sodass dieser Faktor die Ergebnisse beeinflusst haben könnte.

3. Serotonintransporter (SERT)
Forschungsfrage: Haben Menschen mit Depressionen höhere Spiegel des Serotonintransporters SERT (was den synaptischen Serotoninspiegel senken würde)?
Ergebnis der Auswertung: Die Daten legen mögliche Reduktionen von SERT in bestimmten Hirnarealen nahe, die Regionen variieren allerdings je nach Studie. Allerdings waren auch in diese Studien nur oder hauptsächlich Personen involviert, die Antidepressiva oder andere Psychopharmaka nahmen oder nehmen - ein Effekt durch die Medikamente kann daher nicht ausgeschlossen werden.

4. Tryptophan-Verringerung
Forschungsfrage: Kann das Vorenthalten von Tryptophan (das das verfügbare Serotonin senkt) Depressionen auslösen?
Ergebnis der Auswertung: Meist wurden keine solchen Effekte gefunden. Eine kleinere Studie zeigte einen geringen Effekt dahingehend, dass sich bei Personen, denen Typotphan vorenthalten wurde, die Stimmung mehr verringerte als bei Personen der Kontrollgruppe. Hier zeigten Personen mit diagnostizierten Depressionen allerdings eine größere Stimmungsreduktion als Personen, die keine Depressionen hatten; Informationen, ob diese Personen Antidepressiva einnahmen, wurden nicht erhoben. Neuere Studien mit gesunden Studienteilnehmern konnten derartige Effekte nicht belegen.

5. / 6. SERT-Gen (und Stress)
Forschungsfrage: Haben Menschen mit Depressionen höhere Spiegel des Serotonin-Transporter-Gens? Gibt es eine Wechselwirkung zwischen dem SERT-Gen und Stress bei Depressionen?
Ergebnis der Auswertung: Die Datenlage ist nicht eindeutig.


Diskussion:
"Die umfassende Überprüfung der wichtigsten Forschungsfelder zu Serotonin zeigt, dass es keine überzeugende Evidenz dafür gibt, dass Depressionen mit erniedrigten Serotoninkonzentrationen oder -aktivitäten verbunden sind oder durch diese verursacht werden. Die meisten Studien fanden keine Hinweise auf eine verminderte Serotoninaktivität bei Menschen mit Depressionen im Vergleich zu Menschen ohne Depressionen. Die Verringerung der Serotoninverfügbarkeit durch das Vorenthalten von Tryptophan drücken die Stimmung von Studienteilnehmern nicht generell.

Qualitativ hochwertige, gut belegte genetische Studien schließen einen Zusammenhang zwischen mit dem Serotoninsystem zusammenhängenden Genotypen und Depressionen effektiv aus, einschließlich einer möglichen Wechselwirkung mit Stress.

Schwache Evidenz aus einigen Studien zur Beziehung zwischen Serotonin-5-HT1A-Rezeptoren und dem SERT-Spiegel deuten auf einen möglichen Zusammenhang zwischen erhöhter Serotoninaktivität und Depression hin. Allerdings wurden diese Ergebnisse wahrscheinlich durch die vorherige Anwendung von Antidepressiva und deren Auswirkungen auf das Serotoninsystem beeinflusst. Die Effekte der Tryptophan-Vorenthaltung in einigen Cross-Over-Studien, die Menschen mit Depressionen einbezogen, könnten auch durch Antidepressiva herbeigeführt worden sein, auch wenn diese nicht durchgehend gefunden wurden.

Die Theorie, dass ein chemisches Ungleichgewicht für Depressionen verantwortlich ist, wird von Fachleuten immer noch vertreten. Insbesondere die Serotonin-Hypothese diente in den letzten Jahrzehnten als Grundlage für einen beträchtlichen Forschungsaufwand. Die breite Öffentlichkeit glaubt weitgehend, dass Depressionen erwiesen das Ergebnis von Serotonin- oder sonstigen chemischen Anomalien sind. Durch diese Auffassung wird auch das Verständnis der eigenen Stimmung geprägt - was wiederum zu einer negativen Erwartungshaltung bezüglich der Verbesserung von Depressionen und einer schlechteren Fähigkeit, die Stimmung selbst zu regulieren, führt.

Die Vorstellung, dass Depressionen das Ergebnis eines chemischen Ungleichgewichts sind, beeinflusst auch die Entscheidung, Antidepressiva einzunehmen oder ihre Einnahme fortzusetzen, und kann Menschen davon abhalten, eine solche Behandlung zu beenden, was möglicherweise zu einer lebenslangen Abhängigkeit von diesen Medikamenten führt."

"Eine Studie in diesem Review fand einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Antidepressiva und der Reduktion von Serotonin im Blutplasma. Es ist möglich, dass die in einigen der eingeschlossenen bildgebenden Studienübersichten gefundene Evidenz für eine Verringerung der SERT-Dichte und der 5-HT1A-Rezeptoren kompensatorische Anpassungen an serotoninsenkende Wirkungen früherer Antidepressiva-Anwendungen widerspiegeln. Die Autoren einer der Meta-Analysen betonten zudem die Evidenz, dass der 5-HIAA-Spiegel nach einer langfristigen Antidepressiva-Behandlung reduziert wurde.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Antidepressiva langfristig kompensatorische Veränderungen hervorrufen könnten, die ihren akuten Wirkungen entgegengesetzt sind."

"Weitere Forschung ist erforderlich, um die Auswirkungen verschiedener Medikamente - insbesondere während und nach deren längerer Anwendung - auf das neurochemische System (einschließlich des Serotoninsystems) sowie deren physischen und psychischen Folgen zu klären."

"Dieser Review legt nahe, dass die enormen Forschungsanstrengungen auf Basis der Serotonin-Hypothese keine überzeugenden Belege für eine biochemische Grundlage der Depression erbracht haben. Dies steht im Einklang mit der Forschung an vielen anderen biologischen Markern. Wir glauben, dass es an der Zeit ist, anzuerkennen, dass die Serotonin-Hypothese der Depression nicht empirisch untermauert ist."



Studienautoren: Joanna Moncrieff, Ruth E. Cooper, Tom Stockmann, Simone Amendola, Michael P. Hengartner und Mark A. Horowitz

Der Originalartikel steht unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International License
Übersetzung/Zusammenfassung: Team PsyAb


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