Dieser Fachartikel wurde im Juni 2025 im Psychotherapeutenjournal veröffentlicht.
Die nachfolgende Zusammenfassung stellen wir mit der freundlichen Genehmigung des Psychotherapeutenjournal und der Autoren ein. Das Copyright liegt beim Psychotherapeutenjournal.
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In dieser kritischen Übersichtsarbeit tragen Michael P. Hengartner und Andri Rennwald den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu Antidepressiva-Entzugsreaktionen zusammen. Nach einem historischen Rückblick zur Begrifflichkeit wird detailliert auf die Themenfelder Abhängigkeit und Sucht, Antidepressiva-Entzugssyndrome, Prävention und Intervention sowie Implikationen für Psychotherapeut*innen eingegangen.
Historischer Rückblick
Erste wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Antidepressiva-Entzugssymptome gab es bereits kurz nach Markteinführung der ersten Antidepressiva in den frühen 1960er-Jahren.
Ursprünglich sprach man in der medizinischen Literatur durchaus von „Entzug“ oder „Entzugssymptomen“, wie dies auch bei anderen psychoaktiven Substanzen üblich ist.
Doch als sich in den 1990er-Jahren Fachartikel über schwere Entzugssymptome beim Absetzen von Paroxetin häuften, reagierte die Pharmaindustrie mit einer strategischen Umbenennung: Aus dem Begriff „Entzugssymptom“ wurde das deutlich harmloser klingende „Absetzsyndrom“. Es wurde betont, dass SSRI keine Abhängigkeit und Suchtverhalten verursachen würden und dass „Absetzsymptome“ zumeist mild und flüchtig seien. Diese sprachliche Veränderung war Teil einer breiten Kommunikationsstrategie, mit dem Ziel, Assoziationen zu Abhängigkeit oder Sucht – und damit mögliche Imageschäden – zu vermeiden.
Diese sehr erfolgreiche Umbenennung war nicht nur sprachlich irreführend, sondern auch wissenschaftlich problematisch. Der Begriff „Absetzsyndrom“ suggeriert, die Symptome träten lediglich unmittelbar nach dem Absetzen auf und seien vorübergehender Natur. Tatsächlich zeigen viele Betroffene aber anhaltende, teils monatelange Beschwerden, die sich nicht selten erst mit zeitlicher Verzögerung bemerkbar machen.Ein Pharmaunternehmen lancierte eine Kampagne, welche das Verständnis von Antidepressiva-Entzug nachhaltig verändern sollte und welche die Psychiatrie bis heute prägt.
Zudem können die Symptome nicht nur beim Absetzen auftreten, sondern auch wenn die Dosis reduziert wird, die Medikamenteneinnahme vergessen wird oder wenn eine entgegengesetzt wirkende Substanz gegeben wird.
Infolge dieser Begriffswahl wird die Entzugssymptomatik bis heute in vielen psychiatrischen Kontexten nicht adäquat erkannt oder behandelt. Der Begriff „Absetzsyndrom“ hat sich trotz seiner unzureichenden klinischen Genauigkeit fest in Leitlinien, Fachliteratur und Praxis verankert. Dies hat dazu beigetragen, dass Betroffene oft keine wirksame Unterstützung erhalten, ein viel zu schnelles Ausschleichen empfohlen wird und ihre Symptome bagatellisiert oder psychologisiert werden.
Diese Begriffsbildung hat somit direkte Auswirkungen für das Verständnis, die Forschungslage und die klinische Praxis.
Erfreulicherweise befassen sich aktuelle wissenschaftliche Fachartikel wieder vermehrt mit der Antidepressiva-Entzugsproblematik und weisen darauf hin, dass Antidepressiva-Entzugssymptome auch schwerwiegend und langanhaltend sein können.In Konsequenz wurde die Problematik von Antidepressiva-Entzugsreaktionen in medizinischen Fachkreisen lange Zeit unterschätzt.
Abhängigkeit und Sucht
Die Autoren differenzieren klar zwischen Sucht (im Sinne von suchthafter Einnahme, Craving) und körperlicher Abhängigkeit durch neurobiologische Anpassung. Fachleute sind sich weitgehend einig, dass Antidepressiva nicht süchtig machen, da sie kein Verlangen nach den Substanzen erzeugen und auch nicht zu einer unkontrollierten Einnahme seitens des Patienten führen.
Daraus wird oft der Fehlschluss gezogen, dass die Medikamente, die kein Suchtverhalten erzeugen, auch keine Entzugsreaktionen verursachen können. Dies hat zur Folge, dass viele Antidepressiva-Entzugssyndrome weiterhin nicht erkannt und falsch behandelt werden.
Die Einnahme von Antidepressiva führt jedoch bereits nach wenigen Wochen zu neurophysiologischen Anpassungsprozessen. Diese Gegenregulationen sind eine normale körperliche Reaktion auf ZNS-aktive Substanzen und führen zu einer körperlichen Abhängigkeit. Sinkt beim Absetzen die biologische Aktivität des Wirkstoffes unter einen Schwellenwert, tritt diese Abhängigkeit als Entzugssymptome zutage.
Antidepressiva-Entzugssymptome entstehen nicht aus psychischer Abhängigkeit, sondern aufgrund der Anpassung des Gehirns an die dauerhafte medikamentöse Veränderung der Signalweiterleitung in den Nervenzellen.
Die Forschung erkennt mittlerweile an, dass dies einer körperlichen Abhängigkeit gleichkommt.
1987 wurde mit der Einführung des Diagnosehandbuchs DSM-III-R der Begriff der Sucht daraus entfernt, da diese Bezeichnung als stigmatisierend angesehen wurde. Das Verhaltensmuster einer Sucht wurde in das Konzept der Abhängigkeit integriert. Diese Änderung wurde dann auch in den ICD-10, dem Diagnosehandbuch der WHO übernommen. Seitdem werden die Konzepte Abhängigkeit und Sucht vermischt. Häufig werden sie von Fachleuten synonym verwendet.Wie auch verschiedene Fachorganisationen festhalten, können Menschen von einer Substanz abhängig sein, ohne süchtig danach zu sein. Antidepressiva werden explizit auch zu diesen Substanzen gezählt.
Antidepressiva-Entzugssymptome
Ein wichtiges Anliegen der Autoren ist es, das Spektrum der Entzugssymptome und deren Abgrenzung von psychischen Störungen darzustellen. Entzugsreaktionen werden in akute (mit der Untergruppe Rebound-Störungen) und post-akute (anhaltende) Syndrome unterteilt. Akute Symptome treten wenige Tage nach Verringerung der Dosis oder Absetzen des Medikamentes auf, während post-akute bzw. protrahierte Symptome verzögert (z.B. nach Wochen) auftreten und Monate bis Jahre andauern können.
Akute Antidepressiva-Entzugssyndrome
Typische akute Antidepressiva-Entzugssyndrome sind:
- Neurologische Symptome (wie Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Kribbeln, Taubheitsgefühle), spezifische Missempfindungen wie „Brain Zaps“ und Sehstörungen
- Körperliche Begleitsymptome (wie Kopfschmerzen, Schwäche und Übelkeit)
- Psychische Symptomen (wie Reizbarkeit, Unruhe, Panik, Schlaflosigkeit und Niedergeschlagenheit)
Die Häufigkeit von akuten Entzugssymptomen lässt sich nicht exakt bestimmen, da sie von vielen Faktoren abhängt. In kontrollierten klinischen Studien liegt sie zwischen 20–60 %. (gemittelt rund 40 %). Aus Befragungen von Menschen, die Antidepressiva einnehmen, lässt sich ableiten, dass die Entzugssyndrome bei ungefähr jeweils einem Drittel mild, moderat beziehungsweise schwer sind.
In mehreren Studien wurde der Zusammenhang zwischen einer längeren Einnahmedauer und dem Risiko schwerer und langanhaltender Entzugssymptome beschrieben.
Post-akute Entzugssyndrome
Diese beinhalten die akuten Entzugssymptome, wobei die emotionalen Symptome besonders ausgeprägt sind. Die wissenschaftliche Faktenlage zu diesen Syndromen ist mager, es lässt sich lediglich sagen, dass anhaltende Entzugssyndrome existieren.
Unterscheidung zwischen Entzugssyndromen und depressiven Rückfällen
Besonders hervorzuheben ist, dass viele dieser Symptome nicht als Entzug, sondern fälschlicherweise als Wiederkehr einer Grunderkrankung oder als Fehldiagnose (z.B. depressive Störung) interpretiert werden.
Die Unterscheidung von Entzugssymptomen und depressiven Störungen als Grunderkrankung lässt sich wie folgt abgrenzen:Tatsächlich gibt es zunehmend Evidenz, dass sowohl in der Forschung als auch in der Praxis zahlreiche Entzugssyndrome als depressive Störungen fehldiagnostiziert werden.
- 1.Akute Entzugssymptome treten sofort und unvermittelt auf; depressive Störungen schleichend.
- 2.Entzugssymptome klingen nach Wiedereinsetzen des Medikamentes rasch ab; bei depressiven Störungen ist ein Abklingen der Symptome nur langsam und über Wochen zu erwarten.
- 3.Das Auftreten von neurologisch-sensorischen Symptomen wie z.B. Taubheit, Kribbeln oder „brain zaps“ stellen keine depressiven Symptome dar.
Prävention und Intervention
Die Forschungslage zur Frage, wie Antidepressiva sicher und schonend abgesetzt werden können, ist dünn. Viele Empfehlungen in Behandlungsleitlinien sind vage und basieren nicht auf belastbarer Evidenz.
Die übliche ärztliche Empfehlung, Antidepressiva innerhalb von vier bis acht Wochen in zwei bis drei Stufen zu reduzieren, reicht für viele Menschen nicht aus – insbesondere im unteren Dosisbereich. Dort treten häufig besonders schwere Entzugssymptome auf.
In der Praxis wurden die Symptome oft ignoriert oder unterschätzt, da man davon ausging, dass Dosen unterhalb der therapeutischen Schwelle keine Wirkung mehr hätten. Viele Betroffene wandten sich daher Internet-Selbsthilfegruppen zu und entwickelten eigene Strategien mit im Niedrigdosisbereich immer kleiner werdenden Dosisreduktionen.Für viele Konsument*innen stellten sich die Reduktionen im Niedrigdosisbereich, oftmals weit unterhalb der therapeutischen Mindestdosis, aufgrund schwerer Entzugssymptome jedoch als unerträglich heraus.
Dieses Vorgehen hat sich mittlerweile aus einer neuropharmakologischen Perspektive als sinnvoll herausgestellt.
Ein zentraler Durchbruch war die Erkenntnis, dass die Wirkung von Antidepressiva nicht linear, sondern hyperbolisch zur Dosis verläuft. Horowitz und Taylor konnten 2019 nachweisen, dass die Arzneimittelwirkung von Citalopram erst unterhalb der therapeutischen Mindestdosis wesentlich abnimmt.
Das bedeutet: Im Niedrigdosisbereich hat jede kleine Reduktion eine große Wirkung auf das Gehirn.
Beispiel Citalopram:
• 20 mg = 81 % Rezeptorbelegung
• 9,1 mg = 70 %
• 5,4 mg = 60 %
• 3,4 mg = 50 %
• 1.5 mg = immer noch ca. 30 %
Diese Dosis-Wirkungsbeziehung wurde dann auch für andere serotonerg wirksame Antidepressiva nachgewiesen.
Diese Erkenntnisse führten zur sogenannten hyperbolischen Ausschleichmethode. Sie sieht vor, die Dosis schrittweise in immer kleineren Schritten zu reduzieren – oft über viele Monate –, mit ausreichend Pausen zwischen den Schritten.Somit wurde aufgezeigt, dass die Beziehung zwischen der pharmakologischen Wirkung und der Dosis nicht linear, sondern hyperbolisch ist, und dass selbst kleinste Dosen weit unterhalb der therapeutischen Mindestdosis immer noch eine substanzielle pharmakologische Wirkung erzeugen.
Dabei gilt: Der Verlauf ist individuell. Wer starke Symptome erlebt, sollte kleinere Schritte machen und längere Pausen einlegen. Eine allgemein gültige Strategie gibt es nicht.
Viele Betroffene bestätigen die Wirksamkeit dieser Methode. Wissenschaftlich belegt ist sie bisher jedoch nur durch Fallberichte und Beobachtungsstudien – kontrollierte Studien fehlen.Wenn schwere Entzugssymptome auftreten, ist dies jedenfalls ein Zeichen, dass die Dosisreduktion kleiner erfolgen muss.
Wichtig ist auch: Tritt beim Reduzieren ein akutes Entzugssymptom auf, kann eine vorübergehende Rückkehr zur letzten gut vertragenen Dosis in den meisten Fällen rasch Linderung verschaffen.
Zudem zeigt die Forschung, dass Antidepressiva mit kurzer Halbwertszeit (wie Paroxetin oder Venlafaxin) besonders schwer abzusetzen sind – ihr Einsatz sollte entsprechend zurückhaltend erfolgen.
Auch eine hohe Dosis und lange Einnahmedauer sind Risikofaktoren für schwerere Entzugsverläufe.Medikamente mit einem hohen Entzugsrisiko sollten sehr zurückhaltend verschrieben werden
Die Forschung zeigt, dass eine begleitende Psychotherapie beim Absetzen das Rückfallrisiko ebenso gut reduzieren kann wie eine medikamentöse Erhaltungstherapie.
Es gibt derzeit keine Behandlungsmassnahmen von post-akuten Entzugssyndromen, deren Wirksamkeit nachgewiesen wäreWissenschaftliche Evidenz aus kontrollierten klinischen Studien zeigt hingegen, dass eine Psychotherapie begleitend zum Ausschleichen der Medikamente die Chancen für ein erfolgreiches Absetzen erhöht.
Implikationen für Psychotherapeut*innen
Psychotherapeut*innen wird eine wichtige Rolle im Entzugsprozess zugeschrieben. Eine enge berufsübergreifende Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeut*innen und behandelnden Ärzt*innen ist hierbei sehr wichtig.
Psychotherapeutische Unterstützung während des Ausschleichens kann Entzugsreaktionen nicht verhindern, da diese neurophysiologische bedingt sind. Sie kann jedoch helfen, Entzugssymptome besser zu bewältigen und Rückfälle zu vermeiden.
Wichtige Bestandteile einer solchen begleitenden Psychotherapie sind die Aufklärung über potenzielle Entzugssymptome und deren zugrundeliegenden neurophysiologische Mechanismen, die Risiken eines abrupten Absetzens sowie über hyperbolische Ausschleichstrategien. Darüber hinaus ist das Erlernen von Bewältigungsstrategien und eine empathische, sicherheitsgebende Begleitung von Bedeutung.
Psychotherapeut*innen können absetzwillige Patient*innen durch Aufklärungsarbeit, Psychoedukation und psychotherapeutische Unterstützung wirksam durch den stellenweise beschwerlichen Absetzprozess begleiten und damit ebenfalls zu einem erfolgreichen Absetzen von Antidepressiva beitragen.
Schlussfolgerungen:
Die Autoren halten es für sehr bedenklich, dass es nur wenige gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse zu Entzugsreaktionen und dem sicheren Absetzen von Antidepressiva gibt und dass diese Problematik auch in der Gesundheitsversorgung nicht die notwendige Beachtung bekommt.
Quellenangabe: Hengartner, M. P. & Rennwald, A. (2025). Entzugsreaktionen beim Absetzen von Antidepressiva. Eine kritische Übersichtsarbeit. Psychotherapeutenjournal, 24 (2), 118–125. https://doi.org/10.61062/ptj202502.002In Forschung und Praxis besteht deshalb ein dringlicher Nachholbedarf