Grundsätze für ein risikominimierendes Absetzen

Informationen zu Entzugssymptomen, und zum risikominimierenden Ausschleichen von Antidepressiva, Benzodiazepinen und Neuroleptika (Antipsychotika) und Phasenprophylaktika
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Grundsätze für ein risikominimierendes Absetzen

Dieser Infotext ist eine Gemeinschaftsarbeit des Teams von adfd.org und wurde dort erstmalig veröffentlicht.


WICHTIGER HINWEIS: Jede Person ist selbst verantwortlich dafür, ob und wie sie Psychopharmaka absetzt. Dieser Text ist keine medizinische Beratung im rechtlichen Sinne.

Beim Absetzen von Psychopharmaka kann es zu schwerwiegenden Absetzsymptomen kommen, weshalb immer mit Bedacht vorgegangen werden sollte. Psychopharmaka sollten daher nach längerer Einnahme möglichst niemals abrupt oder sehr schnell abgesetzt werden (Ausnahme: Lebensbedrohliche Nebenwirkungen). Ein solcher Kaltentzug kann zu sehr schweren und lang anhaltenden Symptomen führen.

Ein risikominimierendes Absetzen bedeutet eine achtsame, schonende und kleinschrittige Vorgangsweise. Nachhaltiges, schonendes Absetzen ist keine Frage von Wochen, sondern von vielen Monaten, manchmal auch Jahren. Es ist daher immer Geduld gefragt.



10%-Grundsatz


Eine Faustregel, die sich Betroffenen-Foren als guter Anhaltspunkt erwiesen hat, ist das Reduzieren um jeweils 10% der aktuellen Dosis alle 4-6 Wochen. Benzodiazepine können auch im Abstand von 2-4 Wochen reduziert werden.

Jeder Absetzverlauf ist bei jeder Person unterschiedlich und kann sich auch während der Zeit verändern. Die Reduktionsschritte müssen dem jeweiligen Verlauf angepasst werden.
Wichtig ist, dass es für einen selbst stimmig ist, und es einem gut damit geht.
Langsames Ausschleichen verringert das Risiko, dass es zu schwerwiegenden und lang anhaltenden Absetzsymptomen kommt.
Dadurch gibt man dem Zentralnervensystem (ZNS) die Zeit, die es braucht, sich an die geringer werdende Zufuhr des Psychopharmakon anzupassen.

Wird in zu kurzen Zeitabständen die Dosis reduziert, kann es passieren, dass sich Absetzsymptome quasi "ansammeln" und dann (oft mit etwas zeitlicher Verzögerung) umso heftiger ausfallen. Deshalb ist ein langsames Ausschleichen mit ausreichend langen Reduktionspausen besonders wichtig.
Es ist daher am sichersten, von Anfang an langsam auszuschleichen. Ist das ZNS durch zu schnelles Reduzieren erst einmal gereizt, kann das den gesamten weiteren Absetzprozess erschweren.



Größe der Reduktionsschritte


Die allgemeine Empfehlung lautet jeweils 10 % der aktuellen Dosis zu reduzieren.
Beispiel: 100 mg - 90 mg - 81 mg - 73 mg - 66 mg - 60 mg - 54 mg usw.

INFO: Nicht alle Psychopharmaka sind in kleinsten Dosierungen erhältlich. Hilfen zur Herstellung fein abgestimmter Dosierungen findest du ebenfalls in dieser Rubrik


Die Größe der Reduktionsschritte nimmt dabei zunehmend ab, je niedriger die Dosis im Verlauf des Absetzens wird.
Es entspricht der Erfahrung von Betroffenen, dass es im niedrigeren Dosisbereich verstärkt zu Entzugssymptomen kommt. Ein Grund dafür ist, dass im niedrigen Dosisbereich noch verhältnismäßig viele Rezeptoren bzw. Transportmoleküle (wie z.B. Serotonintransporter) belegt sind.

INFO: Warum eine graduelle Reduktion (immer kleiner werdende Reduktionsschritte) sinnvoll ist findest du im Beitrag "Graduelle Reduktion" näher erklärt.

Manche Betroffene können im oberen Dosisbereich etwas schneller reduzieren,
z.B. jeweils 10 % der Ausgangsdosis. Im Verlauf sollten jedoch auch hier die Reduktionsschritte kleiner werden, indem die Bezugsgröße für die 10 % nach unten angepasst wird.
Beispiel: 300 mg - 270 mg - 240 mg - 210 mg -- 190 mg - 170 mg - 150 mg - 130 mg -- 115 mg - 100 mg - dann weiter wie im Beispiel oben.

Manche Betroffene können nur kleinere Schritte machen als 10 %, z.B. nur 5 %.

Es hängt immer vom Verlauf ab, was möglich ist. Es lässt sich kein fester Absetzplan vorgeben.



Abstand zwischen den Reduktionen


Vor jedem weiteren Reduktionsschritt sollte man stabil sein. Das heißt, es sollten keine oder nur noch leichte Absetzsymptome vorhanden sein.

Die allgemeine Empfehlung lautet, alle 4 - 6 Wochen zu reduzieren.

Dieser Abstand hat sich bei vielen Betroffenen bewährt. Allerdings gibt es auch da große Unterschiede. Manche Betroffene können nur alle 2 - 3 Monate reduzieren.
Letztlich muss jeder Betroffene, den für sich passenden Rhythmus heraus finden.



Ausschleichen von Retardtabletten


Retardtabletten dürfen nicht zerkleinert oder in Wasser gelöst werden. Um die Wasserlösemethode oder das Reduzieren mithilfe einer Feinwaage anwenden zu können, muss zunächst auf ein nicht-retardiertes Präparat (mit gleichem Wirkstoff) umgestellt werden.

Die Umstellung auf das nicht-retardierte Präparat erfolgt am besten schrittweise. Die umgestellte Teildosis wird zunächst ausgeschlichen, dann wir die nächste Teildosis umgestellt.
Beispiel: eine 100 mg Retardtablette wird in einem ersten Schritt umgestellt in 50 mg retardiert und 50 mg unretardiert. Die unretardierte Dosis ist evtl. auf zwei oder drei Einnahmezeitpunkte am Tag zu verteilen.
Nach frühestens einer Woche kann dann mit dem Ausschleichen der unretardierten Dosis nach der 10 % Empfehlung begonnen werden.

Retardkapseln dürfen mit der Kügelchenmethode ausgeschlichen werden, vorausgesetzt die einzelnen Kügelchen sind retardiert.



Ausschleichen einer Depotinjektion


Manche Neuroleptika werden gelegentlich alle paar Wochen als Depotinjektion verabreicht. Bekommt man diese bereits über einen längeren Zeitraum, empfiehlt es sich auch hier, langsam auszuschleichen.

Stehen niedriger dosierte Injektionen zur Verfügung, so kann die Dosis schrittweise auf die niedrigst verfügbare Dosis reduziert werden.
Alternativ oder auch im Anschluss an die schrittweise Reduktion der Injektionen ist die Umstellung auf Tabletten oder ein Flüssigpräparat möglich, um dann dies langsam auszuschleichen.



Der Schritt „auf null“


Von welcher Dosis aus man den letzten Schritt „auf null“ machen sollte ist unterschiedlich und kommt auf das Medikament an. Es hängt auch davon ab wie der Absetzprozess bisher verlaufen ist und wie stark die Absetzsymptome sind.

Eine mögliche Vorgehensweise ist, mit der 10 % Methode mindestens bis auf 1 mg zu reduzieren.
Ab 1 mg könnte man z.B. in 0,1 mg Schritten reduzieren und von 0,1 mg auf null absetzen. Nicht jeder muss am Ende so kleine Schritte machen, es gibt allerdings auch sensible Betroffene, die noch vorsichtiger vorgehen müssen und auf Dosierungen unter 0,1 mg reduzieren, bevor sie komplett absetzen.



Weiblicher Monatszyklus


Für Frauen kann es hilfreich sein, die Reduktionen auf den eigenen Monatszyklus abzustellen. Die Regelblutung kann die Absetzsymptome verstärken, und das Absetzen kann PMS (Prä-menstruelles Syndrom) verstärken.



Absetzpausen


Manche Betroffenen hilft es, immer mal wieder eine längere Absetzpause zum Stabilisieren einzulegen.

Nicht reduzieren sollte man während oder kurz nach einem Infekt sowie vor oder nach einer OP.
Ebenso sollte man gut überlegen, ob ein weiterer Reduktionsschritt sinnvoll ist, wenn man gerade starkem Stress ausgesetzt ist.



Microtapering


Manche Betroffene verkraften nur kleinste Dosisreduktionen. Für sie ist „Microtapering“ eine Alternative. Bei dieser Methode werden sehr kleine Absetzschritte (z.B. 1-2% der letzten Dosis) gemacht, dafür in kürzeren Zeitabständen. Der Abstand sollte mindestens 3 - 5 Tage sein. Außerdem muss man darauf achten, dass man insgesamt nicht mehr als 10 % innerhalb von 4 Wochen reduziert.

Zudem empfiehlt es sich, immer mal wieder mindestens 4 Wochen auf einer Dosis zu bleiben, damit sich das ZNS wirklich anpassen kann.

Diese Methode verträgt nicht jeder. Daher ist es ratsam, sie nur dann zu versuchen, wenn sich das Reduzieren auch mit 5%-Reduktionen schwierig gestaltet.



Problematische/riskante Vorgehensweisen beim Absetzen


Erfahrungsgemäß können folgende Vorgehensweisen häufiger zu starken und anhaltenden
Symptomen führen und sind daher nicht zu empfehlen:


Wechselnde Dosierungen:

Ärzt*innen empfehlen manchmal, durch täglich wechselnde Dosierungen zu reduzieren. Manche Betroffene nehmen auch wochen- oder tageweise wechselnde Dosierungen je nach Befinden ein, oder lassen einzelne Tage aus, wenn sie sich gut fühlen.

Dies reizt das Zentralnervensystem sehr, davon ist unbedingt abzuraten. Eine täglich gleichbleibende, stabile Dosis ist die Grundlage für erfolgreiches Absetzen.


Reduzieren trotz anhaltender Entzugssymptome:

Entzugssymptome können manchmal länger anhalten, als die empfohlenen 4-6 Wochen Absetzpause bis zum nächsten Reduktionsschritt. Sollten nach diesem Zeitraum noch stärkere Symptome vorhanden sein, ist es nicht sinnvoll trotzdem weiter zu reduzieren.

Die Symptome können sich sonst weiter verstärken und dazu führen, dass nicht weiter abgesetzt werden kann oder gar die Dosis wieder ein wenig erhöht werden muss.

Bei anhaltenden Symptomen ist abzuwägen, ob man weiter auf der Dosis bleibt, oder einen Teil der letzten Reduktion rückgängig macht. Anhaltende Entzugssymptome sind meist ein Zeichen dafür, dass man schneller reduziert hat als der Körper sich anpassen kann und man das Absetzen langsamer angehen solltest.

Es gibt jedoch auch Absetzverläufe, bei denen bestimmte Symptome dauerhaft vorhanden sind. Das können beispielsweise Schlafstörungen oder Schmerzen sein. In dem Fall ist es wichtig den eigenen "Entzug Normal Zustand" zu kennen und diese Dauersymptome von den akuten Absetzsymptomen zu unterscheiden lernen. Ist man in dem eigenen "Entzug Normal Zustand", und sind die Symptome im erträglichen Rahmen, kann man dann dennoch behutsam weiter reduzieren.


Von einer zu hohen Dosis den Schritt "auf Null" machen:

Viele können sich nur schwer vorstellen, dass das Absetzen selbst kleiner Mengen von wenigen Milligramm noch Auswirkungen haben kann. Erfahrungsgemäß ist aber gerade das Absetzen der letzten Milligramm manchmal am schwierigsten. Die Rezeptoren im Gehirn sind auch bei den kleinen Dosierungen noch vergleichsweise stark von dem Medikament belegt.

Bei zu frühem Absetzen auf Null kann es daher trotz bisher langsamer Reduktion zu starken und länger anhaltenden Symptomen kommen. Es ist daher ratsam, geduldig bis auf eine sehr kleine Dosis zu reduzieren, bevor man den Schritt auf Null geht.



Absetzen nach einer Kurzzeiteinnahme


Psychopharmaka sind meist ab ca. vier Wochen in den Gehirnstoffwechsel eingebaut (Achtung, bei Benzodiazepinen kann es noch früher und auch bei gelegentlicher Einnahme zu einer Gewöhnung an die Substanz kommen!). Bei einer Einnahme unter vier Wochen kann man zumeist noch sehr zügig absetzen.

Folgende Vorschläge sind zur Orientierung gedacht, entscheidend ist immer der Einzelfall:
  • Einnahme bis 5 Tage: das Psychopharmakon kann in der Regel einfach wieder weggelassen werden
  • Einnahme 5 - 10 Tage: die Dosis halbieren, 50% der Dosis 2-3 Tage einnehmen, dann das Psychopharmakon weglassen
  • Einnahme 10 - 28 Tage: Das Medikament sollte möglichst innerhalb 4 Wochen seit Einnahmebeginn abgesetzt sein. Sofern es in diesem Zeitraum noch möglich ist, sind Reduktionen um jeweils 25 % empfehlenswert.
  • Einnahme bis zu 3 Monate: Oft ist in diesem Zeitrahmen ein etwas schnelleres Reduzieren, z.B. durch etwas größere Reduktionsschritte als nach der 10%-Regel möglich. Es ist immer eine persönliche Abwägung, so dass man einerseits nicht zu schnell reduziert und damit das Zentralnervensystem überfordert und andererseits die Einnahmezeit nicht noch mehr dadurch verlängert, dass man zu langsam reduziert (weil sich dann das Zentralnervensystem dann immer mehr an den Wirkstoff gewöhnt).


Absetzen von mehreren Psychopharmaka


Nimmt man mehrere Psychopharmaka parallel ein, so sollte man auf keinen Fall mehrere Wirkstoffe gleichzeitig absetzen, sondern immer nur einen nach dem anderen.

Wenn eines der Psychopharmaka besondere Probleme bereitet, ist es oft sinnvoll, dieses als erstes auszuschleichen. Die Einnahme der anderen Psychopharmaka wird inzwischen wie gewohnt fortgesetzt.

Oft wird eine Kombination aus einem anregendem und einem beruhigendem Psychopharmakon verschrieben (z.B. ein SSRI als anregendes und ein Neuroleptikum als beruhigendes Psychopharmakon). Sie sollen so gegenseitig die Nebenwirkungen mildern. Oft ist es in solchen Fällen sinnvoller, zunächst das anregende Psychopharmakon auszuschleichen. Das kann dazu führen, dass sich die sedierende Wirkung des beruhigenden Psychopharmakon stärker zeigt. Reduziert man zuerst das beruhigende Psychopharmakon, kann sich umgekehrt Unruhe als Nebenwirkung des anregenden Psychopharmakon stärker zeigen. Dann kann es sinnvoll sein, die Psychopharmaka abwechselnd zu reduzieren. Der Abstand zwischen zwei Reduktionen sollte jedoch auch dann mindestens 4 Wochen betragen.
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