Ein Kaltentzug ist das plötzliche Weglassen einer körperlich abhängig machenden Substanz, wie z.B. Benzodiazepine, Psychopharmaka, Neuroleptika, Opiate, usw. von einem Tag auf den anderen. Hier gibt es möglichst einfach gehaltene FAQ für alle, die ihr Psychopharmakon kalt oder viel zu schnell abgesetzt haben:
Warum ist ein Kaltentzug problematisch?
Ein Kaltentzug kann zu sehr schweren und lang anhaltenden Symptomen führen bis hin zu Bettlägrigkeit und Suizidalität. Es kann ein protrahiertes (nachgelagertes) Entzugssyndrom entstehen, für das es bisher keine Behandlung gibt. Ein solches Entzugssyndrom klingt von selbst wieder ab, aber das kann schlimmstenfalls Jahre dauern.
Die Vorstellung, man habe ein paar heftige Wochen und dann sei es ausgestanden, ist oft nicht zutreffend.
Es ist besser, sich auch nicht darauf zu verlassen, dass man ja jederzeit nach einem Kaltentzug das Medikament problemlos wieder eindosieren könne. Dies ist nicht immer möglich und auch wenn die Wiedereindosierung klappt sind die Absetzverläufe oft schwieriger und langwieriger, als wenn man von Anfang an langsam ausschleicht.
INFO: Grundlegende Informationen zum Absetzen findest du in der Rubrik "Grundlagen zum Absetzen".
Warum empfehlen manche Ärzte einen Kaltentzug/rasches Absetzen?
Viele Ärzte sind sich der Problematik der lang anhaltenden Entzugssyndrome nicht bewusst.
Sie glauben bis heute, dass die akute Phase einen Entzuges (nach Kaltabsetzen oder wenigen großen Absetzschritten in kurzer Zeit) nur wenige Wochen anhält.
Die Gebrauchsinformationen/Fachinformationen der meisten neuen Psychopharmaka weisen inzwischen darauf hin, dass bei Absetzsymptomen das Medikament wieder eingenommen und langsamer abgesetzt werden sollte. Nähere Informationen gibt es dazu aber nicht.
Erschwerend kommt hinzu, dass keine so niedrig dosierten Präparate zur Verfügung stehen, wie sie für ein risikominimierendes Ausschleichen benötigt werden.
Wie kann man die Symptome eines Kaltentzugs abfangen/mildern?
Die Wiedereindosierung einer kleinen Menge des zu schnell abgesetzten Psychopharmakons ist keine Garantie für das Verschwinden von Symptomen. Aber meist ist es die einzige Möglichkeit schwere Symptome abzumildern oder vorzubeugen.
Der Versuch die Entzugssymptome mit einem anderen Wirkstoff zu mildern, gelingt oft nicht. Es kann sogar dazu führen, dass die Symptomatik weiter verschlimmert wird.
INFO: Tipps zum Umgang mit Entzugssymptomen, eventuell unterstützenden Nahrungsergänzungsmitteln etc. findest du in der Rubrik „Umgang mit dem Entzug“
In welchem Zeitrahmen ist eine Wiedereindosieren am sinnvollsten?
Idealerweise nimmst du sofort nach dem Auftreten von (stärkeren) Entzugssymptomen dein Medikament wieder ein. Je mehr Zeit vergeht, desto schlechter ist die Chance, dass die Wiedereindosierung erfolgreich ist.
Für eine Wiedereindosierung gibt es meist ein Zeitfenster von ungefähr vier bis sechs Wochen. In diesem Zeitraum ist die Chance einer erfolgreichen Wiedereindosierung am größten.
Danach steigt das Risiko einer Unverträglichkeit/paradoxen Reaktion, wenn das Medikament wieder eingenommen wird.
Einige Betroffene können jedoch auch noch Monate nach dem Absetzen wiedereindosieren. Das ist individuell sehr unterschiedlich.
Welche Dosis ist für die Wiedereindosierung sinnvoll?
Oft reicht schon eine Teildosis aus um Absetzsymptome zu lindern.
Je länger das Absetzen des Medikaments zurückliegt, desto geringer sollte die gewählte Dosis beim Wiedereindosieren sein. Gerade nach längerer Zeit ohne das Medikament ist das sinnvoll, um zu sehen, ob es noch vertragen wird und keine paradoxe Reaktion hervorruft. Die Dosis kann dann langsam auf eine kleine Teildosis gesteigert werden.
Die passende Dosis ist immer individuell unterschiedlich. Manchmal kann man sich nur vorsichtig an die passende Dosis herantasten. Als Orientierung kann gelten: Die Dosis sollte so gering wie möglich sein, aber hoch genug um eine Stabilisierung zu erreichen.
Die Dosishöhe hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie z.B.:
- wie lange du bereits das Medikament abgesetzt hast
- der letzten stabilen Dosis
- Einnahmedauer und Ausgangsdosis
- Art des Absetzens
- aktuelle Symptomatik
Als grobe Orientierung kann gelten:
Hast du erst vor wenigen Tagen abgesetzt, kannst du meistens zur letzten Dosis oder auf 10 % weniger zurückkehren.
Je länger das Absetzen bereits her ist, umso kleiner sollte die wieder eingenommene Dosis sein.
Hast du bereits mehrere Wochen abgesetzt, reicht oft eine sehr kleine Dosis von ungefähr 1-2 mg, manchmal auch nur 0,5 mg.
Hast du bereits mehrere Monate abgesetzt, ist es am sichersten, es mit der kleinstmöglichen Dosis zu probieren, z.B. 0,1 mg.
Es ist sicherer, eine niedrige Dosis zu wählen. Reicht diese nicht aus, so kannst du nach ca. 2 Wochen ein wenig hochdosieren, wenn die niedrige Dosis zum Lindern der Symptome nicht ausreicht.
Warum ist es besser nur eine Teildosis wiedereinzunehmen?
Psychopharmaka wirken direkt auf das Gleichgewicht der Botenstoffe im Zentralnervensystem (ZNS). Das ZNS passt sich dieser Einwirkung an.
Im Entzug muss sich das ZNS erneut anpassen, um sein ursprüngliches Gleichgewicht wieder zu erlangen. In dieser Phase ist das ZNS sehr empfindlich und größere Dosierungen können gegenteilige (paradoxe) Reaktionen auslösen, die sehr schwerwiegend sein können.
Wenn das Absetzen schon länger zurück liegt, ist das ZNS bereits dabei sich wieder umzustrukturieren (z.B. seine Rezeptoren anzupassen). Dann reicht meist eine deutliche niedrigere Dosis als die Ursprungsdosis aus, um sich zu stabilisieren. Eine zu hohe Dosis wäre ein erneuter "Schock" für das ZNS.
Außerdem musst du letztlich eine kleinere Gesamtdosis ausschleichen, wenn du auch nur eine kleinere Dosis wieder einnimmst.
Wie lange sollte ich dem Wiedereindosieren Zeit geben?
Es dauert etwa 4 Tage bis der Körper eine erneute Gabe eines Medikamentes, das auf das ZNS einwirkt, registriert. Solange es keine sofortige negative Reaktion gibt, ist es sinnvoll die Symptome mindestens eine Woche lang zu beobachten, um zu entscheiden, ob der Schritt des Eindosierens hilfreich ist.
Kommt es zu einer sofortigen deutlichen Verschlechterung, sollte die Dosis reduziert werden. Bei einer massiven Symptomatik könnte eine Unverträglichkeit vorliegen. Dann muss die Wiedereindosierung abgebrochen werden.
Wenn die Wiedereindosierung vertragen wird, die Dosis aber für eine Stabilisierung noch nicht ausreicht, kannst du in sehr kleinen Schritten die Dosis steigern. Allerdings belastet auch eine Höherdosierung ZNS und sollte daher sehr behutsam erfolgen.
Nach dem erneuten Eindosieren dauert es unterschiedlich lange bis die Symptome sich bessern und Stabilität erreicht ist. Eine Verbesserung kann sofort oder nach einigen Tagen, Wochen oder Monaten eintreten.
Wenn die Symptome sich durch die Wiedereindosierung verbessern, ist es wichtig seinem Nervensystem Zeit geben, sich zu stabilisieren bevor eine erneute Dosisreduktion vorgenommen wird. Dabei geht es eher um Wochen oder Monate, nicht um Tage.
Beim Wiedereindosieren brauchst du viel Geduld. Häufig sind nicht sofort alle Entzugssymptome beseitigt. Es können weitere Symptomwellen auftreten, die dann mit der Zeit weniger werden.
Was kann ich tun, wenn ich mein ursprünglich eingenommenes Psychopharmakon nicht mehr einnehmen will?
Wenn du bereits an Absetzsymptomen leidest, kannst du nur „auf Zeit spielen“. Mit der Zeit bilden sich Absetzsymptome in der Regel zurück. Aber es kann unter Umständen sehr lange dauern. Wenn noch die Möglichkeit einer Wiedereindosierung besteht und du diese verträgst, ist es meist einen Versuch wert.
Seit ich abgesetzt habe fühle ich mich suizidal und will nicht mehr leben. Was soll ich tun?
Dies ist ein Notfall! Sofern du noch in der Lage dazu bist, selbst vernünftige Entscheidungen zu treffen, dosierst du das Medikament wieder ein (Details dazu siehe oben).
Außerdem solltest du dir unbedingt Hilfe in deinem direkten Umfeld suchen. Vertraue dich Familie und Freunden an!
Wenn die Suizidalität stark ist, rufe sofort eine Krisenhotline an oder begib dich sofort zum Arzt, ärztlichen Bereitschaftsdienst oder in die Notaufnahme.
Wenn du nicht mehr zur Suche für Hilfe imstande bist, wähle den Notruf unter 112.
Suizidalität ist leider ein bekanntes Absetzsymptom, aber auch eine Nebenwirkung von Psychopharmaka.
Können Absetzsymptome lebensbedrohlich sein?
In der Regel nein.
Sie können sehr beängstigend sein, weil das ganze Zentralnervensystem aus dem Gleichgewicht geraten ist, aber die grundlegenden lebenserhaltenden Funktionen sind normalerweise gewährt.
Es gibt jedoch folgende Ausnahmen:
- Benzodiazepine dürfen nicht kalt abgesetzt werden! Nach einer längeren Einnahmezeit in höherer Dosierung kann es bei einem Kaltentzug zu epileptischen Anfällen oder einem Delir kommen und das ist sehr gefährlich.
- Werden Antipsychotika kalt abgesetzt, kann das eine erneute Psychose bzw. schizophrenen Schub auslösen. Das nennt man dann Entzugspsychose bzw. Supersensitivitätspsychose. Dieses Risiko besteht insbesondere für Menschen, die bereits eine Psychose hatten. Setze Antipsychotika daher niemals kalt ab!
- Ganz selten kann es beim Absetzen zu Herzrhythmusstörungen und Blutdruckentgleisungen kommen, die behandlungsbedürftig sind. In diesem Fall ist unbedingt ein Arzt aufzusuchen!
- Alle auftauchenden Herzprobleme gehören sicherheitshalber vom Arzt abgeklärt. Ebenso sollte auch alles andere, das dir seltsam und furchteinflößend erscheint, ärztlich abgeklärt werden. Auch wenn es sich in der Regel um harmlose Störungen handelt, sollte sicherheitshalber immer ein Arzt aufgesucht werden.
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